Johannes Michels

Bücklers Vermächtnis


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die Rechte die er zu einer Faust gebildete hatte und grüßte mit einer leichten Verbeugung in Richtung der Gruppe. Diese tat es ihm nach.

      »Tui Shou«, forderte er dann.

      Sophie sah wie sich ihre Gruppe lichtete. Von anfänglich zwölf Schülern blieben nur noch vier, einschließlich ihr, stehen. Tui Shou war eine Übung für Fortgeschrittene, besser bekannt unter dem Begriff Push Hands, die schiebenden Hände. Hierzu stellten sich die Schüler als Paare gegenüber. Sophie sah sich einem Mitstudenten aus ihrem Semester gegenüber. Sein Name war Dennis, zweiundzwanzig Jahre alt, der in seiner Freizeit die meiste Zeit im Fitnessstudio verbrachte. Sophie und er nahmen über ihre Arme Kontakt zu einander auf. Sie spürte deutlich die durchtrainierte Unterarmmuskulatur ihres Gegenübers. Aber sie wusste, dass es hier weniger auf Kraft ankam, sondern auf die Umlenkung dieser. Xiao Yi gab das Zeichen um anzufangen. Dennis schob mit seiner Rechten Sophies Linke von sich fort. Sophie nutze dessen Schwung aus und lenkte seinen Arm von sich weg, um ihrerseits mit der Rechten seine Linke nach vorn schieben. Nun war es an ihm diese umzulenken, um dann erneut wieder seine Rechte nach vorne zu bewegen. So ergab sich eine fließende, wiederkehrende Bewegung, die aus Schieben und Nachgeben bestand. Sophie war hochkonzentriert. Sie achtete auf jede Regung ihres Gegenübers, um rechtzeitig die Angriffe von Dennis umzulenken. Dies ging ein ganze Weile so, bis schließlich Xiao Yi das Zeichen zur freien Gestaltung der Push Hands gab. Sophie und Dennis lösten den Kontakt und traten je zwei Schritte zurück. Von nun an waren es keine vorgegebenen Bewegungen mehr. Sondern jeder versuchte auf seine Weise den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sophie atmete tief durch und nahm eine Verteidigungsposition ein. Dennis, von seinem Können überzeugt, stürzte nach vorne. Sophie wich dem Angriff geschickt aus, erwischte das Handgelenk ihres Gegners und beförderte ihn mit einer geschickten Drehung auf den von der Sonne ausgebleichten Rasen. Etwas irritiert rappelte Dennis sich wieder hoch, um dann abermals einen Angriff zu starten. Auch diesmal schaffte es Sophie Dennis auszuweichen. Abermals versuchte sie Dennis´ Arm zu erwischen. Aber diesmal war ihr Gegner darauf vorbereitet, vereitelte ihre halbherzige Verteidigung und setzte seinerseits einen Gegenangriff der sie zu Boden beförderte. Sophie spürte wie ihr die Luft aus der Lunge gepresst wurde, als sie hart auf den Rücken aufschlug.

      Es war immer wieder das Gleiche dachte, sie. Sie musste einfach schneller reagieren, sonst hatte sie gegen so jemanden kräftigen wie Dennis keine Chance.

      Tief durchatmend stand sie wieder auf.

      »Weißt du was dein Fehler war?« Xiao Yi stand vor ihr.

      »Ja, ich bin zu langsam.«

      Xiao Yi tippte ihr mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Nicht denken, handeln!«

      Er hatte recht, überlegte sie. Ihr flogen während des Kampfes noch zu viele Gedanken durch den Kopf und das raubte ihr einfach Zeit zum Reagieren. Daran würde sie arbeiten müssen.

      Dann beendete Xiao Yi die Übungsstunde.

      Sophie war wieder auf ihrem Zimmer im Studentenwohnheim. Sie duschte ausgiebig und wollte dann ihren Rucksack packen. Die Semesterferien hatten begonnen und sie würde zu ihrer Familie nach Wetzlar fahren. Sophie war froh eine Pause von ihrem Studium zu bekommen. Sie studierte romanische Philologie im achten Semester. Als sie das Studium begonnen hatte, ahnte sie nicht auf was sie sich da eingelassen hatte. Ihre Begeisterung für Italienisch und Französisch hatte sie zu diesem Entschluss bewogen. Doch schon im ersten Semester musste sie erkennen, dass dieses Studium wesentlich umfangreicher sein würde, als sie erwartet hatte und deutlich über das bloße Erlernen von Fremdsprachen hinausging. Es war vielmehr eine wissenschaftliche Ausbildung in Sprach- und Literaturwissenschaft, Landeskunde und Fachdidaktik. So tat sie sich am Anfang auch sehr schwer, aber mit der Zeit begeisterte sie die Materie immer mehr, bis sie sich schließlich kein anderes Studium mehr vorstellen konnte. Das Erlernen der Sprachen an sich fiel ihr eher leicht. Manchmal war es so, dass sie neue Vokabeln nur einmal lesen und eine Nacht darüber schlafen musste und sie waren in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie dankte dem Schicksal mehr als einmal dafür, dass sie diese Gabe besaß. Wenn sie sah, wie manche ihrer Kommilitonen mit den Sprachen zu kämpfen hatten, war sie froh, dass ihr das erspart blieb.

      In ihrer Freizeit widmete sie sich gerne dem Tai Chi Chuan. Noch zu Hause in Wetzlar hatte sie damit begonnen und war froh es in Heidelberg fortführen zu können. Außerdem ging sie regelmäßig Joggen, was sie ebenfalls als einen guten Ausgleich zu dem stundenlangen Büffeln über den Büchern empfand.

      Sophie trat aus der Dusche, griff nach ihrem Handtuch und begann sich abzutrocknen. Sie betrachtete sich im Spiegel und sah eine junge attraktive Frau vor sich. Ihr Studium lief gut und sie fühlte sich selbstbewusst. Eigentlich hätte sie glücklich sein müssen. Eigentlich! Aber sie war es nicht. Und wenn diese Gedanken, die sich um das Eigentlich drehten, sich in sie hineinschleichen wollten, dann suchte sie Ablenkung in anderen Dingen, häufig in ihren Büchern.

      Die Sonne stand am blauen Himmel und warf ihr Licht auf die Erde. Kurz über dem Asphalt, in den Straßen von Wetzlar, flimmerte die erhitzte Luft. Sophie war gerade mit dem Zug am Bahnhof angekommen und bahnte sich einen Weg durch ihre Heimatstadt. Der Schweiß perlte ihr von der Stirn und ihre Kleidung klebte ihr am Leib. Der schwere Rucksack, den sie mit sich trug, tat sein übriges dazu.

      Sie bog um die Ecke in die Brückenstraße. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zum Haus ihrer Eltern.

      Die Sonne brannte erbarmungslos auf Sophie herab und ihr dunkles, langes Haar schien die Strahlen förmlich aufzusaugen. Sie hätte glauben können in einen Backofen geraten zu sein.

      Schweiß perlte ihr von der Stirn und brannte in ihren smaragdgrünen Augen. Mit einer Handbewegung verschaffte sie sich Abhilfe.

      Als sie vor der Haustür stand, kramte Sophie nach dem Schlüssel. Sie öffnete die Tür, trat ein und nahm zuerst einmal den Rucksack ab. Sie stand einen Moment so da und genoss die angenehme Kühle des Flurs, bevor sie in die Küche ging, die Kühlschranktür aufriss und sich eine Flasche Mineralwasser nahm, die sie sogleich auf den Mund stülpte. Das kalte Wasser tat ihrer ausgetrockneten Kehle gut. Zufrieden wischte sie sich mit dem Handrücken über den Mund nachdem sie fertig war. Sie war froh angekommen zu sein. Auch wenn sie in Heidelberg ihr eigenes Reich hatte, so bestand ihr Domizil dort doch nur aus einem kleinen Zimmer mit Toilette und Dusche. Da war das Haus ihrer Eltern doch etwas anderes. Ihr Vater war Unternehmer in der Elektrobranche und hatte seiner Familie ein sehr ansehnliches Heim geschaffen. Auf einem zwölfhundert Quadratmeter großen Grundstück baute er ein geräumiges Haus mit sehr vielen verwinkelten Zimmern.

      Als Kind hatte Sophie mit ihrer Schwester Jana hier oft Verstecken gespielt.

      Sophie spürte wie es ihr schwerer wurde zu atmen. Jana, dachte sie bedrückt. Sophie fingerte an dem Verschluss der Flasche, um sie wieder zu öffnen. Sie brauchte noch einen Schluck Wasser, denn sie wollte den Klos hinunterspülen, der sich in ihrem Hals zu manifestieren begann. Doch ihre Hände zitterten und der Plastikverschluss fiel auf den Boden. Hastig hob sie ihn wieder auf.

      »Du bist ja schon da!«

      Sophie sah zur Tür, wo ihre Mutter Klara stand. Erleichtert, nicht mehr allein zu sein mit ihren wehmütigen Gedanken, ging sie auf ihre Mutter zu und umarmte sie. Klara drückte sie herzlich an sich.

      »Ja, ich habe einen früheren Zug genommen.« Sophie löste sich aus der Umarmung und stellte die Flasche ab.

      Klara strich ihr durchs Haar. »Es ist schön, dass du da bist.«

      Sophie lächelte etwas verlegen. Ihre Mutter war alt geworden, dachte sie. Sie schien die letzten Monate um zehn Jahre gealtert zu sein. Aber das war kein Wunder, es schien vielmehr die Trauer widerzuspiegeln, die ihre Mutter empfand. Sophie spürte wie der Klos in ihrem Hals noch stärker zu werden drohte. Sie zwang sich nochmals zu einem Lächeln, um ihre Sorge zu verdecken.

      »Ich bin auch froh wieder hier zu sein, ist Papa noch in der Firma?«

      »Nein, er ist oben in seinem Büro.«

      Sophie wusste, dass es hier nicht leicht werden würde. Zu viele schmerzliche Erinnerungen an Jana gingen mit diesem Haus einher. Aber sie konnte auch nicht immer