Jo L.L. Roger

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den Eindruck, dass meine Mum ziemlich enttäuscht ist.“

      Brigitta schiebt den zweiten Bürostuhl mit der Fußspitze in seine Richtung. Carl greift nach der Lehne. Er rollt damit zum Schreibtisch und stellt den Rucksack ab. „Kann ich deinen Windowsrechner herunterfahren?“

      „Bedien dich. Ich lasse die Datentransfers inzwischen nur noch über den Server laufen.“

      Carl klickt durch das Startmenü. Geduldig wartet er, bis sich der Computer ausschaltet. Anschließend steckt er seine Festplatte in den Wechselrahmen des PCs und drückt den Hauptschalter. Gemächlich rattert der Rechner los. Während er die frischen Daten kopiert, beobachtet er Brigitta. Sie starrt gebannt auf die Fenster der Entwicklungsumgebung. Geschickt navigiert sie mit der Tastatur durch endlos erscheinenden Quellcode. Fasziniert versucht er ihr zu folgen.

      „Nicht spicken! Es ist doch eine Überraschung!“

      „Glaub mir, du könntest mir das auch zum Lesen ausdrucken und ich hätte keinen Plan, woran du arbeitest.“

      „Echt?“

      „Ja! Brauchst du lange?“

      „Ich bin mit der aktuellen Version fast fertig.“

      „Du willst mir nicht verraten, was es wird?“

      „Noch nicht, sonst ist doch die Überraschung hin.“

      Schulterzuckend dreht sich Carl zum anderen Rechner. Über eine Netzwerkfreigabe durchsucht er frische Releases, die auf TerraStar liegen. Fleißig kopiert er Spiele und Programme, deren Beschreibungen interessant klingen oder deren Namen seine Neugierde wecken. Immer wieder wirft er einen Blick auf Brigitta, die verbissen in ihren Monitor starrt und mit dem Quellcode kämpft. Gelegentlich stoppt sie kurz, um den Haarreif zurechtzurücken.

      „Machst du noch lange?“, fragt Carl.

      „Nein, hab fast alle Fehler beseitigt.“

      Gelangweilt entpackt er einen der Downloads, um die Software testweise zu installieren. Während er mit den mehrfach komprimierten Daten ringt, beobachtet ihn Brigitta aufmerksam. Beinahe beiläufig speichert sie ihr Projekt und startet den Compiler zur Übersetzung des Programms. „Das ist ganz schön nervig mit den vielen ZIP- und RAR-Dateien?“

      „Wie immer, wenn man ein Release in Dutzende Häppchen zerstückelt. Die Typen sollten endlich mit den 2.88-Megabyte-Archiven aufhören. Dieses exotische Diskettenformat benutzt sowieso niemand.“

      Brigitta kichert.

      „Mach dich nicht über mich lustig! Oder findest du die endlosen Dateien etwa praktisch?“

      „Nope, nicht im Geringsten!“ Mit einem kurzen Blick kontrolliert sie den Status des Build-Prozesses, der nahezu vollständig durchgelaufen ist. Carl tippt nervös mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte, während er dem Fortschrittsbalken des Entpackers folgt. Als dieser bei 100 % angelangt ist, klickt er in das neue Unterverzeichnis, in dem er ein weiteres gigantisches ZIP-Archiv vorfindet. „Das ist jetzt deren ernst, oder?“

      „Was denn?“

      „Noch ein Archiv.“

      Brigitta rutscht näher an ihn heran und legt ihre Hand auf seine Schulter. „Dann wird dir mein Programm gefallen.“

      „Wie kommst du darauf?“

      „Probier es einfach mal aus“, bittet sie.

      „Wo liegt es?“

      „Moment! Ich kopier es dir auf TerraStar in unser privates Verzeichnis.“

      Während er auf das riesige Archiv wartet, durchsucht Carl den Server nach ihrer Überraschung. „Der Ordner heißt WMP?“

      „Ja, du kannst es dir ziehen.“

      Carl kopiert das Programm und startet es. „Warez Manager Pro?“

      „Ja“, kichert Brigitta. „Fand ich irgendwie passend.“

      „Und was macht der Warez Manager?“

      „Probier ihn doch einfach aus.“

      Neugierig navigiert er durch die verschiedenen Untermenüs, bis er auf die Funktion Unzip stößt. Er klickt diese an. In dem Fenster, das sich nun öffnet, wählt er einen Ordner mit einem Release aus. Nachdem das Programm das Verzeichnis eingelesen hat, zeigt es ihm an, wie die kopierte Applikation heißt und von welcher Gruppe sie ins Internet gestellt wurde. Brigitta beobachtet ihn wissbegierig bei der Entdeckungsreise durch das neue Tool. Da sie seine Begeisterung erkennt, verwandelt sich ihr Gesicht in ein strahlendes Lächeln. Sie steht auf, um ihm aufgeregt über die Schulter zu schauen. Carl klickt auf den Schalter Unzip Release.

      „Und? Gefällt es dir? Sag schon was?“

      „Ich bin sprachlos!“ Er verfolgt die Statusmeldungen, die den Benutzer darüber aufklären, wohin die Dateien gerade entpackt werden. „Und das Ding macht jetzt aus dem ganzen Berg von Archivdateien ein einzelnes sauberes Verzeichnis?“

      „Ja!“, versichert sie. „Du musst also nie wieder Stunden damit verbringen, irgendwelche Downloads zu entpacken, bevor du sie auf eine CD brennst.“

      „So etwas programmierst du zum Spaß in deiner Freizeit?“

      „Warum nicht? Stört dich das?“

      „Nein, im Gegenteil! Ich bin total baff!“

      Brigitta strahlt nicht nur vor Freude über das Gesicht, sondern kann kaum ruhig stehen. Aufgeregt gestikuliert sie mit ihren Händen, während sie Carl über die aktuellen und die zukünftigen Funktionen des Programms aufklärt: „Also du kannst natürlich nicht nur ein einzelnes Release damit entpacken, sondern es gibt auch noch den Batchmodus. Damit kannst du ein Verzeichnis mit allen Unterordnern extrahieren. Außerdem habe ich eine Datenbank integriert, in der sich der WMP die Spiele und Programme merkt. Die kannst du selbstverständlich durchsuchen. Darüber hinaus gibt es den CD-Modus, mit dem du erfassen kannst, welche Sachen du bereits auf eine CD gebrannt hast. Natürlich gibt es auch einen Release-Modus, mit dem du ein eigenes Release nach den korrekten Regeln der Szene verpacken kannst. Das ist für den Fall, dass wir selbst mal etwas ins Internet stellen wollen. Außerdem arbeite ich noch an einem Archiv für Cracks, damit ...“

      „Hey, hey, ganz langsam, Brigi!“, unterbricht Carl. „Ich habe schon verstanden, was du gecodet hast. Um ehrlich zu sein, bin ich total begeistert.“

      „Danke!“ Sie beugt sich zu Carl und küsst ihn. Zärtlich legt er seinen Arm um ihre Hüfte. Dankbar erwidert sie die Zuneigung mit einem weiteren, diesmal längeren Kuss. „Genug programmiert für heute!“, erklärt sie.

      „Ich wollte eigentlich mit dir über etwas anderes reden.“

      „Dein Zivi?“

      „Dort muss ich jetzt zum Glück nicht mehr hin, da mich die Bundeswehr nicht haben will.“

      „Auch nicht schlecht!“

      Carl räuspert sich. „Ich bin im Augenblick ratlos, da ich davon ausgegangen bin, dass ich die nächsten Monate tatsächlich Zivi machen werde. Jetzt könnte ich vielleicht doch studieren.“

      „Wofür hast du dich entschieden?“

      „Bin mir nicht sicher, aber für Informatik reichen meine Mathekenntnisse keinesfalls.“

      „Hast du dir mal Medientechnik oder so etwas in der Art angesehen? Das passt wahrscheinlich perfekt zu dir.“

      „Dafür braucht man aber einen ziemlich heftigen Numerus clausus, oder?“

      Brigitta zuckt mit den Schultern.

      „Vermutlich müsste ich für das Studium aus München weggehen.“

      Das fröhliche Lächeln auf Brigittas Gesicht schwindet. „Gibt’s das nicht auch hier?“

      „Ja, aber ich bezweifle, dass ich jetzt noch einen Studienplatz bekomme. Außerdem ist das mehr auf Drucktechnik und