Bier bekommen. Paul hatte bei „Bernies“ einen Tisch reservieren lassen, denn dieses Lokal war immer gut besucht.
Marie war fürchterlich aufgeregt, ebenso wie Paul. Beiden war eine gewisse Nervosität anzumerken. Marie wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Ihr fiel einfach nichts Intelligentes ein. Sollte sie ihn nach seiner Familie fragen? Nein, zu vertraulich, entschied sie. Sollte sie ihn nach seinem Beruf fragen? Also, das ist wirklich typisch deutsch! Hier in den USA wurde diese Frage eventuell als genauso unhöflich angesehen, wie in Großbritannien. Da sie über Paul nichts wusste, ebenso wenig über die Stadt und die Gegend, schwieg sie. Er hält mich sicher für eine rechte Langweilerin, dachte sie. Aber je mehr sie sich bemühte ein Gesprächsthema zu finden, desto weniger fiel ihr ein. Sie vertrieb sich die Zeit damit, ihn von der Seite zu betrachten. Wie viele Lachfältchen er um Augen und Mund hat! Er muss ein fröhlicher Mensch sein. Sie unterdrückte ihren Impuls, zärtlich seine Wange zu berühren.
Paul erging es nicht besser. Auch er überlegte, welches Gesprächsthema wohl am geeignetsten sein mochte. Denn eine völlig schweigsame Fahrt zu „Bernies“ war auch undenkbar, sie würde ihn sonst sicher für einen Langeweiler halten.
„Wir gehen zusammen aus und ich weiß nicht einmal deinen Namen“, stellte Paul die für ihn nahe liegende Frage.
„Oh, habe ich den noch nicht gesagt? Marie“, antwortete sie eher vorsichtig, denn plötzlich hatte sie Bedenken: Sie saß mit einem wildfremden Mann in einem Auto und wusste nichts über ihn, außer seinem Vornamen und dass er wohlige Schauder in ihrem Inneren erzeugte.
Paul wiederholte den Namen immer wieder für sich: Marie, Marie, wie schön und wie gut er zu ihr passt. Sie war eine wunderschöne dunkle Marie. Er blickte sie an lächelte: „Was für ein schöner Name und woher kommst du, Marie?“
Marie sah ihn ebenfalls lächelnd an und wieder wünschte sie sich nichts sehnlicher, als von ihm berührt zu werden. Als hätte Paul ihre Gedanken gelesen, nahm er seine rechte Hand vom Lenkrad und strich ihr ganz zärtlich über ihre Wange. Marie erbebte und antwortete heiser: „Aus Deutschland.“
„Deutschland? Wo genau?“, Paul fasste wieder das Lenkrad.
„Aus München.“
„So, aus München. In Deutschland war ich leider noch nie. London ja, auch Paris“, Paul blickte sie wieder an. Wie schön sie war, dachte er. Als er ihre Haut berührt hatte, war es, als wäre ein elektrischer Strom durch seinen Körper gefahren.
„Ach, Paris ist auch eine meiner Lieblingsstädte“, schwärmte Marie, in London war ich auch schon, aber nur einmal kurz, nach dem Abitur.
„In Paris erinnere ich mich an den Eiffelturm und den Louvre. Wir sind dort stundenlang herumgelaufen“, entgegnete Paul.
„Ja, im Louvre war ich auch schon und ich war vollkommen hingerissen. Wir sind dort stundenlang herumgelaufen, um die Mona Lisa anzusehen. Man muss schon sehr bequeme Schuhe anhaben. Und weißt du, ich war dann ganz überrascht, wie klein das Bild war. Ich konnte bei den vielen Menschen rings herum nicht viel erkennen. Auf dem Eiffelturm war ich leider noch nie, mir immer waren die Warteschlangen davor zu lang.“
„Wir haben es mit viel Geduld geschafft, auf den Turm hoch zu fahren. Phantastisch dieser Blick über die Stadt. Die vielen Straßencafès und die Seine-Promenaden haben mir auch sehr gut gefallen. Sie sind einmalig, besonders, wenn man hier in Montana aufgewachsen ist“, sagte Paul.
Marie registrierte, dass Paul das zweite Mal von „wir“ gesprochen hatte, sie biss sich aber auf die Zunge und unterdrückte den Impuls, ihn zu fragen. Sie selbst war schon öfter mit ihrer besten Freundin Caro in Paris gewesen. Nach dieser mühseligen Unterhaltung war Marie froh, als sie endlich bei „Bernies“ ankamen und hoffte, dass die Unterhaltung nicht den ganzen Abend aus diesem verbalen Abtasten bestand. Aber auch Paul fand diese Art von Gespräch fürchterlich und nahm sich vor, die weitere Unterhaltung etwas flotter zu gestalten. Doch Marie schien eine äußerst zurückhaltende junge Frau zu sein.
Paul und Marie stiegen aus Pauls Pick-up. Als Marie vor Paul das „Bernies“ betrat, war sie richtig begeistert. Die Atmosphäre, die sie umfing, war gemütlich und nett. Auf der langen Theke stand eine große kupferne Zapfanlage. Dahinter an der Wand hing ein riesiger Spiegel und in den Regalen stand eine ungeheure Auswahl an unterschiedlichsten Biergläsern. Es war ausgesprochen rustikal, aber nicht im bayrisch-pittoresken Stil, sondern eher klassisch, skandinavisch. Die Wände waren teilweise schwarz lackiert und verliehen dem Raum die Weite einer überdimensionalen Halle. Sehr schick für diese Kleinstadt.
Paul wurde mit viel Hallo begrüßt. Sie setzten sich in die reservierte Nische und während sie die Speisekarte studierten, bestellte Paul zwei Biere. Marie entschied sich für einen Gemüseauflauf, während Paul für sich ein Steak mit Bratkartoffeln bestellte. Die Bedienung stellte zwei große Krüge Bier vor die beiden hin und sie prosteten sich zu, dabei blickten sie sich tief in die Augen. Marie errötete. Sie entschloss sich, etwas offener zu Paul zu werden.
Paul war neugierig und wollte alles über Marie wissen: “Also, was machst du hier bei uns? Hier ist nicht gerade eine touristische Gegend. Wir haben hier nicht viele Fremde. Auch zu unserem alljährlichen Rodeo sind kaum Fremde hier, es ist eben das Ereignis für unser Tal.“
„Nun, dass konnte ich nicht sehen, dazu kenne ich mich nicht gut genug aus. Ich bin hier nur zufällig gelandet, weil ich mich verfahren habe. Ich wollte und will eigentlich zum Yellowstone Park. Aber morgen versuche ich mein Glück erneut. Als ich hier in den Ort gefahren bin, sah ich die Schilder mit dem Rodeo, sie waren ja schwerlich zu übersehen und da ich bisher kein Rodeo kannte, beschloss ich zu bleiben, um es mir dann doch einmal anzusehen. Na ja, und ‚Ellas Best‘ wurde mir von der netten Bedienung bei Starbucks empfohlen.“
„Du hast dich verfahren?“, fragte Paul ungläubig, „Wie kann denn so etwas passieren? Hast du keine Straßenkarte oder ein Navigationsgerät im Auto? Zum Yellowstone muss man nur auf der N 89 oder der 191 bleiben.“
„Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Ich war auf dem Highway und wollte nur den Weg abkürzen. Dann bin ich gefahren und gefahren und hier in Ridgerock gelandet. Aber es gibt sicher Schlimmeres als hier mit dir im ‚Bernies‘ Bier zu trinken“, schmunzelte Marie Paul an.
„Tja, und ich hätte dich niemals getroffen. Das ist so ungewöhnlich, sich hier zu verfahren, dass ich fast an ein gütiges Schicksal glaube. Eine gute Göttin hat dich ganz bestimmt geradewegs nach Ridgerock geschickt und nur, damit ich dich kennenlerne“, erwiderte Paul schelmisch und schien sie mit seinen Blicken festhalten zu wollen.
„Ja, so wird es wohl gewesen sein“, parierte Marie tapfer. Bei dem Gedanken, morgen weiterzufahren, wurde sie unendlich traurig, sie mochte Paul mehr, als ihr jetzt gut tat. Sie spürte, dass sie Paul von Minute zu Minute mehr mochte. Sie sah an seinen Augen, ihm erging es genauso wie ihr.
Als ihr Essen gebracht wurde, ließen sie es sich schmecken und Marie erzählte ein wenig von München und den Bergen, die sie an die Rocky Mountains erinnerten. Paul beobachtete fasziniert, wie Marie erzählte, wie sie lachte, ihn anlachte und dabei regelrecht aufblühte. Sie erzählte aber nichts über sich oder was sie in München machte. Und Paul kam gar nicht auf die Idee, sie danach zu fragen oder ihr etwas von sich zu erzählen. Er saß einfach da und himmelte die Frau seines Lebens an. Er wünschte, sie in seinen Armen zu halten, sie mit seinen Lippen zu liebkosen und ihr diese vorwitzige Locke aus der Stirn zu streichen.
Marie ging es ebenso: Sie erzählte und konnte den Blick nicht von seinem Gesicht abwenden. Sie sehnte sich danach, seine Arme um ihren Körper zu spüren und sich einfach ihrem Verlangen nach ihm hinzugeben.
Nach dem Essen erinnerte sich Paul an den Ball und schaute auf seine Uhr. Sein sonstiges Leben kam ihm völlig entrückt vor, wie in weiter Ferne, doch er hatte Marie den Ball versprochen und sagte deshalb: „Ich habe den Ball ganz vergessen. Wenn du möchtest, könnten wir jetzt langsam aufbrechen. Die Eröffnung ist inzwischen zwar vorbei, aber ich würde ich mich sehr freuen, wenn dich meiner Familie vorstellen kann. Sie sind alle sehr nett und freuen sich bestimmt, dich auch kennenzulernen“. Er erhob sich, um an der Theke zu bezahlen.