Werner Sauter

Kompetenzentwicklung im Netz


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Setzt das Verfahren für das geistige oder physische Handeln echte Entscheidungs- bzw. Konfliktsituationen, die nicht mit Hilfe bisherigen Wissens und Wertens („algorithmisch“) bewältigt werden können?

      2. Erzeugt das Verfahren aufgrund der Bedeutsamkeit dieser Entscheidungs- bzw. Konfliktsituationen echte und tiefgehende emotional – motivationale Labilisierungen und wenn, in welcher Stärke?

      3. Gestattet das Verfahren eine emotional - motivational hinreichend verankerte Rückkopplung und gedächtnismäßige Speicherung des Handlungserfolgs?

      4. Wird im Verfahren der Handlungserfolg und die zu ihm führenden Werte in nachfolgenden Kommunikationsprozessen akzeptiert und sozial bekräftigt und wenn, in welcher Stärke?

      5. Lässt sich das Verfahren für unterschiedliche Entscheidungs- bzw. Konfliktsituationen, bei unterschiedlichen emotional – motivationale Labilisierungen und gedächtnismäßigen Speicherungsprozessen sowie in verschieden gestalteten Kommunikationsprozessen so generalisieren, so dass es in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen einsetzbar ist?

      Diese Fragen werden wir auch an die Instrumente des Web 2.0 stellen, mit deren Hilfe wir eine Kompetenzentwicklung im Netz gestalten zu können glauben.

      2.3 Was „sind“ Kompetenzen und wie werden sie vermittelt?

      Der Kompetenzbegriff hat sich überraschend, ja beängstigend schnell durchgesetzt – warum? Handelt es sich um mehr als eine Mode? Kompetenzen „enthalten“ Fertigkeiten, Wissen im engeren Sinne, einfache (nicht selbstorganisative) Fähigkeiten, Qualifikationen – aber in welcher Weise? Wie hängen Kompetenzen und Werte zusammen – ist es sinnvoll, der Wertaneignung (Interiorisation) so breiten Raum zu geben wie soeben geschehen, wenn man „eigentlich“ Aussagen zur Kompetenzaneignung, vorrangig im Netz, machen will?

      Kompetenzbegriffe gibt es wie Sand am Meer. Lässt sich eine plausible Ordnung in das Kompetenzwirrwar bringen? Kompetenzen werden erst im Handeln sichtbar - lassen sie sich dennoch so zuverlässig bestimmen, dass sie personalwirtschaftlich planbar, als Humankapital berechenbar erscheinen? Kompetenzen lassen sich ebenso wenig wie Erfahrungen „lehren“ –lassen sie sich dennoch systematisch vermitteln? Auf solche Fragen wollen wir jetzt zu antworten versuchen. Erst wenn wir sie beantwortet haben, können wir dann überlegen, ob, wo und auf welche Weise wir Methoden der Kompetenzentwicklung im Netz benutzen können, um das Humankapital eines Unternehmens systematisch zu steigern, um Kompetenzvermittlung systematisch gestalten zu können.

      2.3.1 Kompetenz – modische Worthülse oder innovatives Konzept?

      Zunächst eine historische Rückblende. Noch vor vier Jahrzehnten, vor dem Beginn der modernen Kompetenzforschung, war klar, was man mit Kompetenz meinte, wenn man Kompetenz sagte. Eine Versicherung ist kompetent für die Bearbeitung spezieller Schadensfälle. Ein Diplomat ist kompetent für aktuelle Fragen des Nahen Ostens. Ein Bankangestellter ist kompetent, mit Firmenkunden über neue Formen der Finanzierung eines innovativen Unternehmens zu sprechen. Der Antrag auf eine Visa- oder Mastercard muss von einem Kompetenzträger unterschrieben werden. In all diesen Fällen bedeutet Kompetenz nicht mehr und nicht weniger als Zuständigkeit – eine Bedeutung, die das Wort schon im römischen Recht und später im Mittelalter besaß, wo es als „zuständig“, „befugt“, „rechtmäßig“ verstanden wurde. Seit dem 19. Jahrhundert bezeichnet Kompetenz im Verwaltungsrecht die Bindung einer Behörde an ihre Funktion, aber auch die Befugnis und Rechtmäßigkeit von Organen, Institutionen und Personen.

      Den ersten Schritt in die neue, immer wichtiger werdende Richtung machte der große Sprachwissenschaftler Noam Chomsky, der 1960 die Fähigkeit von Sprechern und Hörern, mit Hilfe eines begrenzten Inventars von Kombinationsregeln und Grundelementen potenziell unendlich viele, auch neue, noch nie gehörte Sätze selbst bilden und verstehen zu können, als Sprachkompetenz bezeichnete. Vor völlig anderem Hintergrund beschrieb 1959 der bekannte Motivationspsychologe Roger W. White Kompetenzen als weder genetisch angeborene noch als biologisches Reifungsprodukt zu verstehende grundlegende, vom Individuum selbst hervorgebrachte Handlungsfähigkeiten, die sich in selbst motivierter Wechselwirkung mit der Umwelt herausbilden.

      In der Arbeits- und Organisationspsychologie wurde der Kompetenzgedanke aufgenommen. Ausgehend von der Theorie der Handlungsregulation entstanden in Auseinandersetzung mit den bis dahin vorherrschenden behavioristischen Ansätzen und ihren Reiz – Reaktions - Modellen, die von festliegenden Zielvorgaben ausgingen, Lerntheorien, die Ziele, Erwartungen und Pläne des handelnden Menschen einbezogen und die selbstorganisierte Entwicklung von Modellen, Plänen und Zielen (kognitive Wende) berücksichtigten. Sie waren durch Chomski maßgeblich beeinflusst. Es bildete sich der Begriff der Handlungskompetenz und damit die Vorstellung einer Wissensbasis, aus der sich beliebig viele Handlungen erzeugen lassen. David McClelland schließlich begründete in den siebziger Jahren den „competency approach“ der Motivationspsychologie und entwickelte das erste grundlegende Kompetenzmessverfahren. Bei all diesen und vielen anderen Ansätzen handelt es sich nicht mehr um Befugnisse oder Zuständigkeiten. Vielmehr dreht es sich um Fähigkeiten, angesichts unendlich vieler Sprach-, Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten selbstorganisiert, eigenständig, kreativ handeln zu können. In diesem Sinne hat das Wort, haben moderne Ideen zu Kompetenzentwicklung, Kompetenzmessung und Kompetenztraining Furore gemacht.

      Wurden noch in den siebziger, achtziger Jahren Basiskompetenzen als Schlüsselqualifikationen missverstanden, dem qualifikationsorientierten Weiterbildungs – Zeitgeist entsprechend, so werden heute umstandslos Wissensbestandteile, Fertigkeiten, Fähigkeiten, Qualifikationen und Persönlichkeitseigenschaften als Kompetenzen bezeichnet. Dagegen hilft weder Sprachkritik noch Wortnormierung. Vielmehr muss man sich klar machen, was hinter dem Boom des Worts Kompetenz steht. Das haben wir eingangs bereits angedeutet und wollen es jetzt zur Formulierung einer Begriffsbeschreibung einsetzen.

      Wir hatten bereits die objektiven Bedingungen einer globalisierten, immer komplexer, dynamischer, vernetzter und unsicherer werdenden Lebens- und Arbeitswelt als Begriffsgrund für den Kompetenzboom ausgemacht und festgestellt, dass es des Kompetenzbegriffs bedarf, um die Aspekte des menschlichen Handelns unter diesen objektiven Bedingungen zu erfassen.

       Bezug auf die Selbstorganisationsfähigkeit und Subjektzentriertheit auf selbstorganisierte Denk- und Handlungsprozesse des Subjekts erscheint uns das wichtigste Kennzeichen von Kompetenzen. Es handelt sich bei Kompetenzen um keine Fähigkeiten an sich, sondern um bestimmte Befähigungen, die ein kreatives Handeln unter Unsicherheit, bei offenem Handlungsausgang, bei großer Komplexität der Handlungsbedingungen ermöglichen. Das wird uns auf sinnvolle Kompetenzdefinitionen führen.

       Der Bezug auf die Qualifikationsabgegrenztheit führt auf Überlegungen, wie sich Kompetenzen von anderen Bewusstseinsresultaten wie Wissen, Fertigkeiten, einfachen Fähigkeiten und Qualifikationen abheben. Das führt uns zu dem hier bevorzugten Inklusionsmodell der Kompetenzen, das nochmals die Rolle von Regeln, Werten und Normen als Kompetenzkernen betont. Zugleich verstehen wir Regeln, Werte und Normen als Ordner selbstorganisierten Handelns. Indem wir nach den Grundformen selbstorganisierten Handelns sowie nach der Fülle entsprechender Handlungsmöglichkeiten fragen, kommen wir auf eine Typologie von Kompetenzen, die vielfältig genug ist, um sie differenziert zu erfassen, aber auch systematisch genug, um die Fülle nicht ausufern zu lassen. In einem Exkurs wollen wir zumindest skizzieren dass,