Für unsere Fragestellung hier ist jedoch entscheidend, dass Emotionen und Motivationen, also verinnerlichte Werte, nicht Gegenstand, sondern nur Vehikel bei der Vermittlung von Wissen im engeren Sinne sind. Sie kommen erst beim konstruktivistisch - selbstorganisationstheoretischen Lernen ins Spiel.
Greifen wir ein beliebiges Beispiel aus dem Blended-Learning- Learning Programm einer Bank heraus. In einem spezifischen Programm für Bankmitarbeiter lauten die ersten beiden Schritte:
1. „Wissensvermittlung: Fachinhalte werden mit Hilfe [des Programms] vom Lerner erarbeitet, zum Beispiel Lesen der Lernhefte, Bearbeiten der Fallstudien, Üben mit den Fragen aus ‚Test it’.
2. Wissenskontrolle: Abgeben der „Superbuttons“ bzw. Weiterleitung der Lerndaten an den Ausbilder / Trainer. Hiermit wird gewährleistet, dass alle Lerner auf einen einheitlichen Wissensstand zurückgreifen können.“ [3]
Hier ist tatsächlich Wissen im engeren Sinne gefragt! Erst in weiteren Schritten der Wissensanwendung und Wissensvertiefung kommen dann Kompetenzen wie Selbstsicherheit, Selbständigkeit und Eigeninitiative ins Spiel.
Dabei reden wir keinesfalls der Ablösung von Wissensvermittlung durch Kompetenzvermittlung das Wort. Es gibt weite Bereiche, wo die schnelle, effektive Weitergabe von Sachwissen höchste Priorität genießt, wie etwa beim Wechsel einer Softwareversion, bei Einführung neuer Technik, bei Inkrafttreten neuer juristischer Regelungen, bei Erarbeitung von neuen Erkenntnissen, die man für die eigene Arbeit benötigt. Hier zählt vor allem die Kürze und Präzision der Weitergabe, die ja auch eine wirtschaftliche Dimension besitzt, die mnemotechnisch nachhaltige Gestaltung des Weitergabeprozesses, die Anbindung des dargebotenen Stoffes an die eigenen Emotionen. Wir glauben, dass mit der anwachsenden Flut des Wissens im engeren Sinne derartige Vermittlungsformen sogar noch zunehmen werden. Weniger in Formen von Seminaren und Weiterbildungsveranstaltungen als in solchen des – oft netzgestützten – Selbststudiums, des Besuchs von Messen und Fachveranstaltungen, des kollegialen Fachgesprächs, der Beteiligung an Projekten, die neue Sachkenntnisse erfordern. [4]
Benutzt man hingegen einen weiten Wissensbegriff, sind Kompetenzen natürlich ein Teil des Wissens und man muss ihre Besonderheiten von anderen Wissensformen abheben. Dabei ist klar, dass das Wissen im engeren Sinne eine Grundlage der Kompetenzen bildet. Es gibt Wissen im engeren Sinne ohne Kompetenzen und ihre Wertekerne, es gibt aber keine Kompetenzen und Werte ohne Wissen im engeren Sinne. Darüber hinaus schließen Kompetenzen aber Werte und Erfahrungen ein, die sich nur teilweise oder überhaupt nicht auf Wissen im engeren Sinne, auf explizites Sach- und Methodenwissen gründen und statt dessen zu verdeutlichendes Wissen oder deutende Werte einbeziehen. Das geht hin bis zum Glauben als bewertetem Nichtwissen. Wissensmanagement wird in diesem Falle weitgehend zum Kompetenzmanagement. [5] Kompetenzmanagement erfordert Wertvermittlung.
Aber was sind Werte? Und wie werden sie vermittelt? Ohne das zu begreifen, kann es unserer Ansicht nach keine praktikable Darstellung von Kompetenzentwicklung und Kompetenzmanagement geben, kann Kompetenzentwicklung im Netz nicht verstanden und beschrieben werden.
[1] Mair, D. (2005).
[2] Kahlert, J. (2005)
[3] Graf, J. (2006), S.51
[4] Erpenbeck, J., Heyse, V. (2007)
[5] Probst, G. J., Deussen, A., Eppler, M., Raub, S. P. (2000)
2.2 Was „sind“ Werte und wie werden sie vermittelt?
Wir versuchen, zunächst ein breit akzeptierbares Wertverständnis aufzubauen, bevor wir uns der zentralen „Drehscheibe“ der Kompetenzentwicklung, der Wertaneignung (Interiorisation) zuwenden.
2.2.1 Wertverständnis
Ehe wir auf die Frage antworten, was Werte „sind“, gilt es, mit einem weit verbreiteten Urteil, ja Vorurteil aufzuräumen. Die folgende Abbildung zeigt eine ziemlich typische Unternehmenssicht.
Abb. 2 Typische Unternehmenssicht von Werten
Werte sind hier ausschließlich in der oberen Etage der normativen Leitlinien, Visionen und Grundsätze angesiedelt. Sie erscheinen als etwas Hehres, Entrücktes, aber auch schnell Veränderbares. Also auch als etwas, worauf man in der „niedrigen“, alltäglichen Praxis nicht unbedingt zu achten braucht. Auch in unserem sonstigen Leben denken wir oft ausschließlich an hehre Ideale, wenn wir über Werte sprechen: Eine saubere Umwelt, gute Entlohnung, Rechtssicherheit, soziale Sicherheit, Arbeit, Gesundheit, Partnerschaft, Demokratie, Freizeit, Bildung, Freunde, Wohlstand usw.
Eine solche Sicht ist aus zwei Gründen problematisch. Die substantivierte Form zeigt schon an, dass man sich solche Werte gleichsam als „Gegenstände“, als etwas Objektives vorstellt. Um diese Frage wurde ein langer Kampf in der philosophischen Werttheorie geführt (Wertsubjektivismus contra Wertobjektivismus [1] ), heute besteht weitgehende Übereinstimmung, dass Werte immer eine Relation darstellen: Ein Subjekt, d.h. ein Mensch, eine Gruppe, ein Unternehmen oder eine Nation, bewertet ein Objekt, ein Ding, eine Eigenschaft, einen Sachverhalt oder eine Beziehung auf der Grundlage von früherem Wissen und früher angeeigneten Werten und anhand von sozial erarbeiteten Wertmaßstäben. [2] Produkte von so ablaufenden Wertungsprozessen sind Wertungsresultate – kurz: Werte.
Damit ist klar, dass Werte unser gesamtes Denken und Handeln durchdringen, dass es großer Anstrengungen bedarf, sie für bestimmte analytische, algorithmische Entscheidungsprozesse auszuschließen. Jeder Mensch wertet in nahezu jedem Augenblick seines Handelns. Er richtet sich, oft mehr ahnend als wissend, danach, welchen Genuss oder Nutzen, welches ethische Gefühl oder welche politische Bestärkung ihm sein Handeln zu vermitteln vermag. Ohne Werte wäre der Mensch nur ein wissensgesteuerter Automat.
Davon ausgehend können wir einige Essentials formulieren, welche die Bedeutung von Werten umreißen, und ihre große Bedeutung für unser Verständnis von Kompetenzen sichtbar machen. Es sind dies:
Die allgemeinste Bestimmung von Werten Werte sind Bezeichnungen dafür, “was aus verschiedenen Gründen aus der Wirklichkeit hervorgehoben wird und als wünschenswert und notwendig für den auftritt, der die Wertung vornimmt, sei es ein Individuum, eine Gesellschaftsgruppe oder eine Institution, die einzelne Individuen oder Gruppen repräsentiert.” [3] Werte sind damit stets das geistig-symbolische Resultat von Wertungsprozessen (= Wertungen), also Wertungsresultate.
Die Struktur von Werten Sie verknüpft das Beziehungsfeld Subjekt der Wertung, Objekt der Wertung, Grundlagen der Wertung (wozu auch alle Kenntnisse und bisherigen Werte gehören) und Maßstäbe der Wertung mit Prädikaten zu Wertaussagen. [4]
Abb. 3 Struktur der Werte
Die Fülle von Werten Wir knüpfen hier an die Feststellung an, jeder Mensch werte in nahezu jedem Augenblick seines Handelns und stellen fest, dass zu dieser Fülle alle sprachlich gefassten oder sprachlich