Etwas anderes, aber prinzipiell in ähnlicher Stoßrichtung wie in diesem Buch geht Luc Ciompi vor. Er hat seine Grundanschauung auf fünf Thesen komprimiert, die auch als Kernsätze für unser Herangehen gelten können. Auch er bedauert die breite Überlappung von Begriffen wie Affekt, Emotion, Gefühl und Stimmung. Er setzt Affekt als „umfassende körperlich-seelische Gestimmtheit oder Befindlichkeit von unterschiedlicher Qualität, Bewusstseinsnähe und Dauer“ als Oberbegriff über alle genannten, bewussten wie unbewussten gefühlsartigen Erscheinungen. [4]
Seine erste These besagt dann dass „Fühlen und Denken – oder Emotion und Kognition, Affektivität und Logik im weiten Sinn – in sämtlichen psychischen Leistungen untrennbar zusammenwirken.“ [5] Die Wissenschaft gehe grundsätzlich von einer Rückführung der ganzen Affektvielfalt auf bloß positive und negative Gefühle im Sinne von Lust und Unlust aus (ganz analog dem nachfolgend erläuterten hedonalgischen Differenzial!), zumindest aber immer eindeutiger von einer kleinen Zahl von genetisch verankerten so genannten Grundgefühlen wie Neugier / Interesse, Angst, Wut, Freude, Trauer, bei einigen Autoren zusätzlich Schreck, Ekel und Scham. Die enorme Zahl von Nuancen dagegen ergibt sich aus der kognitiven und kulturellen Abwandlung von Grundgefühlen, wobei der Kognitionsbegriff allerdings ebenso wenig einheitlich verwendet wird und von den „kognitiven Neurowissenschaften“ auch auf den Bereich des Emotionalen ausgeweitet wird. Ciompi benutzt deshalb, wie auch hier vorgeschlagen, einen engen Kognitionsbegriff, wonach Kognition definiert wird als „die Fähigkeit, sensorische Unterschiede wahrzunehmen und weiter zu verarbeiten.“ [6]
Die zweite These besagt, dass Affekte im definierten Sinne „alles Denken und Verhalten nicht nur andauernd begleiten, sondern zu einem guten Teil auch regelrecht leiten.“ Emotionale, „affektive Wertungen teilen die begegnende Wirklichkeit aufgrund der Erfahrung in potenziell Angenehmes und Unangenehmes, Harmloses und Gefährliches etc. ein; und weitgehend unbewusste Operatoren sorgen auf dieser Basis dafür, dass Aufmerksamkeit und Gedächtnis, Denken und Verhalten sich diesen Wertungen selbstorganisatorisch anpassen. Alles in allem stellen Affekte … die bei weitem wirksamsten Komplexitätsreduktoren dar über die wir verfügen.“ [7] Dies entspricht der Anschauung, Werte als Ordner selbstorganisierten Handelns im Sinne der Synergetik zu beschreiben.
Ciompis dritte These bildet in gewissen Sinne den Kern aller unserer Überlegungen, formuliert sie doch, warum ohne emotional – motivationale Verankerung, ohne Interiorisation (Internalisation) von Werten kein Kompetenzerwerb und kein kompetentes Handeln möglich sind „Meine dritte These besagt, dass situativ zusammengehörige Gefühle, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen sich im Gedächtnis zu funktionellen Einheiten im Sinne von integrierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen (abgekürzt FDV – Programmen) verbinden, die sich in ähnlichen Situationen immer wieder neu aktualisieren, differenzieren und gegebenenfalls auch modifizieren.“ [8]
Die vierte These erklärt, dass emotionale Energien das kollektive Denken und Handeln ganz ähnlich wie das individuelle wecken, steuern und organisieren.
Und die fünfte These fasst zusammen: „Affekte sind die entscheidenden Motoren und Organisatoren aller psychischen und sozialen Entwicklung.“ [9] Theorien sozialer Systeme, die individuelle Werte, Emotionen, Motivation und Kompetenzen marginalisieren, führen zu einem untauglichen Sozial- und Weltverständnis.
Kompliziert ist, dass Emotionen auf eine ganze Reihe von psychischen Zuständen und Prozessen einwirken, diese umgekehrt aber die Emotionen selbst beeinflussen oder verändern. Emotionen bewerten Zustände und Ereignisse, sie erzeugen Handlungsbereitschaft, positiv bewertete Zustände und Ereignisse herbeizuführen, sie werden vom Handelnden erlebt, zuweilen mit heftigen körperlichen Begleiterscheinungen. [10] Komponenten von Emotionen sind die kognitive (Reizbewertung), die neurophysiologische (Systemregulation), die motivationale (Handlungsvorbereitung), die ausdrucksbezogene (Kommunikation) und die gefühlsbezogene (Kontroll-) Komponente. [11] Die Motivation spielt hier also eine Rolle als eigene, zentrale Komponente, während Emotionen Motivationen grundieren und Handlungsbereitschaft initiieren.
Motivationen stellen kompliziert strukturierte Gefühle dar, die Umweltereignisse und Objekte, also Erfahrungen und Wahrnehmungen des Menschen in einer ganz bestimmten Art bewerten. Der Unterschied liegt wohl vor allem darin, dass Motivationen künftige Handlungen und Handlungsergebnisse in eher konkretisierter, mit konkretem Wissen „unterfütterter“ Form antizipieren, während Emotionen wertgesteuerte künftige Handlungen und Handlungsergebnisse in eher generalisierter Form antizipieren . [12] Motivationen greifen immer auch auf Emotionen zurück, lassen sich nicht unabhängig von ihnen begreifen; Emotionen münden in aller Regel in umfassendere Motivationen. Insofern handelt es sich meist um emotional-motivale Voraussetzungen von Handeln, die nicht auseinander zu trennen sind.
[1] Rost, W.(1990), S.42
[2] Arnold, R. (2005), S.140
[3] Merten, J. (2003), S. 12
[4] Ciompi, L. (2002),S. 18f
[5] ebenda, S.16
[6] ebenda, S.22
[7] ebenda, S.23 und 27
[8] ebenda, S.31
[9] ebenda, S.37
[10] Oatley, K., Jenkins, K. M. (1996)
[11] Scherer, K.R., Wallbott, H. (1990)
[12] Holzkamp-Osterkamp (1981); Erpenbeck,J.,(1984)
2.2.4.2 Prozesse des Wertewandels
Philosophen, Psychologen, Politiker, Soziologen, Manager und Pädagogen stehen vor den beiden zentralen Fragen:
- Wie ist der Prozess sozialen Wertewandels begreifbar, wie überlagern oder ersetzen neue Werte die alten, wie werden sie sozial erarbeitet; wie individuell verarbeitet und angeeignet. Das heißt: Wie werden sie zu freiwillig akzeptierten handlungsleitenden Emotionen und Motivationen des Einzelnen interiorisiert (internalisiert).
- Wie sind die psychischen “Mechanismen” individuellen Wertwandels beschaffen, auf deren Basis sich solche Aneignung vollzieht. Das heißt: Wie vollziehen sich die dazu notwendigen psychischen Abläufe der Interiorisation (Internalisation).
Auf die zweite Frage möchten wir uns hier konzentrieren, während zur ersten einige skizzierende Umrisse genügen mögen. Dies vor allem, weil es zu sozialen