Magdalena Gräfenberg

Helen und die Häute der Frauen - Erster Teil: SOKO Haut


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ein Fragenkonglomerat dar. Nichts war wirklich klar.

      War Dr. von Eynim als Inhaber des Unfallwagens involviert in die Verbrechen? Und wenn ja, wie weit? Mit jeder weiteren Frage wurde der Komplex immer ausgedehnter.

      Hatte er die Unfallfahrt veranlasst? Oder warum hatte er Dr. Maric Hödeny den Wagen überlassen?

      Wusste er vom Tode Mandys, mit der er ja mal befreundet gewesen war, und von ihrer Ausschlachtung? Ausschlachtung wozu? Wo fand die Ausschlachtung statt? War hier eine Organmafia beteiligt?

      Wie waren die Verknüpfungen des Dr. v. Eynim zu dieser postulierten Organmafia?

      Wer waren die weiteren Beteiligten?

      Wer war der Taxidermist in Sambia?

      Wer hatte die Häute der Frauen dorthin geliefert? War es Zufall, dass Dr. von Eynim beim gleichen Taxidermisten in Sambia seine Trophäen präparieren ließ?

      Maric und v. Eynim waren Jäger, v. Eynim überließ seinen Wagen Maric.

      Von Eynim jagte vielleicht bei Maric. Kannte er das Jagdhaus bei Vesprem? Und wenn, wusste er, was sich da abspielte? War er dabei, wenn dort Frauen gequält und gevögelt wurden? Hatte er Spaß dabei? Maric transportierte die Leiche einer Frau, die seine, von Eynims, Freundin war. In welcher Beziehung stand sie zuletzt zu ihm?

      Helen erkannte, dass sie so ganz gegen ihren Willen die Tagebücher der Mandy und die Briefe der Manuela genauer lesen musste.

      Borhagen hatte schon jede Menge Zettel mit Namen und tausend Farben eingeklebt. Sie musste notgedrungen auf den gleichen Wissensstand kommen wie ihr Chef.

      Ob sie wollte oder nicht, der Abgleich der DNA des Dr. von Eynim mit dem DNA-Pool der ungarischen Polizei hatte dabei echte Priorität. Vielleicht ist er ja einer der vielen, die ihre Spuren in Mandys oder Doreens Körper vor ihrem Tod hinterlassen haben oder auch im Jagdhaus im ungarischen Forst, dachte sie. Apropos Doreen, woher wusste sie überhaupt, dass die Gehäutete Doreen hieß?

      Ach ja, Borhagen hatte den Namen auf den Zettel geschrieben. Sie musste einfach alles lesen.

      Die eigentliche Sachlage glaubte die federführende deutsche Staatsanwaltschaft durch die Ungarn geklärt zu sehen. Für die noch offenen Fragen war von Seiten der um Amtshilfe gebetenen deutschen Staatsanwaltschaft Unterstützung zugesagt. Hier sollte Borhagen mit seinem Team ansetzen. Nichts war sehr eilig. Überwiegend stützte man sich ja auf die Untersuchungen aus Ungarn bzw. Budapest und die Erkenntnisse der Semmelweiss Universität.

      Die ungarische SOKO „BOR“, zu Deutsch „Haut“, wandte sich direkt an die Leitstelle der ehemaligen deutschen Nachfolge-Sonderkommission der SOKO „Weißes Fleisch“. Sie wussten, dass dort Erfahrung mit dem Thema war, wenn auch die Ausgangsbasis eine scheinbar andere war, und die SOKO schon lange aufgelöst war. Jedenfalls war Borhagen als Ansprechpartner bekannt. Man vermutete, dass letztlich wieder der Frauenhandel die Haupttriebfeder war.

      Die SOKO „Weißes Fleisch“, hatte vor Jahren sehr erfolgreich den Frauenhandel zwischen Deutschland und Tschechien einerseits, und Ungarn mit der Ukraine und Rumänien andererseits aufgemischt. Man wusste von Zeiten, da jede Woche ein Frauenhändlerring in Tschechien und Ungarn aufgeflogen war, bis ein Lernprozess bei den Händlern einsetzte und sie ihre Vertriebsmethoden und Transportwege änderten. Die Beschaffungsmethoden blieben weitgehend die gleichen. Jetzt nutzte man aber zusätzlich das Internet und die sozialen Netzwerke. Helen wusste, dass neugierige und pubertierende junge Mädchen nicht nur in der Ukraine und Rumänien über Facebook und ähnliche Netzwerke in die Falle von Frauenhändlern gelockt wurden. Auch die Islamisten mischten jetzt mit.

      Als der Zeitpunkt des Montagnachmittag-Treffens mit Borhagen näher rückte, hatte Helen schon Raul, ihren Studienfreund und IT Spezialisten, begeistert.

      Raul, der über ungeahnte Beziehungen und Möglichkeiten verfügte, hatte schon angefangen, ein spezielles Suchprogramm zu organisieren, das sich auf Körper- und Gesichtserkennung spezialisiert hatte. Ein Programm, das nach mathematischen Prinzipien und biometrischen Daten der von ihm vorgegebenen, bekannten Gesichter und Körper das Internet nach entsprechenden Pornoseiten und Bildern durchsuchen sollte. Diese Beispiel-Gesichter und -Körper würden dann durch die Zielpersonen ersetzt werden. Raul sagte zu Helen, wenn alle, die sich bei Facebook oder Twitter oder anderen sozialen Netzwerken darböten, wüssten, dass man sie auf diese Weise weltweit verfolgen konnte, würde mancher das Posten von Bildern einfach bleiben lassen.

      Mandys Tagebuch

      Nachdem Helen die gesamte polizeiliche Lektüre quergelesen und Notizen für Fragen vorbereitet hatte, war sie schon bis zu den Tagebuchseiten von Mandy und Manuela vorgedrungen. Kurz hatte sie die Briefe von Manuela überflogen und nachgesehen, welche Schwerpunkte BH mit seinen Markern gesetzt hatte.

      Mit deutlicher Zurückhaltung und in Erwartung seichten Gesülzes hatte sie danach begonnen, die handschriftlichen Seiten Mandys, die mal mit Bleistift, mal mit Kugelschreiber, in Ich - Form und teilweise sehr weitschweifig geschrieben waren und die man im Unfallwagen des Dr. Maric Hödeny gefunden hatte, zu lesen und aufzuarbeiten. Schon beim ersten Blättern hatte sie erkannt, dass sie hier eine besondere Qualität zum Lesen bekam.

      Auch in diesem Tagebuch fand Helen die vielen Lesezeichen von BH. Nach den Erfahrungen mit den Texten von Manuelas Briefen und Borhagens Hinweis auf genaue Beachtung der Texte, las Helen alles zunächst noch einmal quer und die Seiten, die BH mit Post-its markiert hatte, genauer. Sie sagte sich, bei endlicher Lebenszeit müsse man sorgfältig mit seiner zur Verfügung stehenden Zeit umgehen, auch wenn in diesem Fall die Pornographie vom Staat bezahlt wurde und alles andere als langweilig war. Die Beschreibungen in den Briefen von Manuela könnten sicher etwas für die Porno-Literaturszene sein.

      Borhagen hatte unendlich viele Lesezeichen eingeheftet. Auch Post-its mit Randbemerkungen und Fragen, die es zu beantworten galt. Helen machte zunächst eine Zusammenfassung und ging dann auf einige Fragen von Relevanz ein. Den vollständigen Text stellt Helen, wie schon die Texte von Manuela, in einen gesonderten Ordner.

      Es waren zwei aneinandergeklebte DIN-A-5-Schreibhefte, die einen Schutzumschlag aus Weihnachtspapier erhalten hatten, grüngrundig, mit roten Weihnachtssternen. Auf die Innenseite des Deckels des ersten Heftes war mit rotem Filzstift eine Widmung an Hagen von Eynim gerichtet:

      Lieber Hagen, ich hatte Dich sehr, sehr geliebt. Aber meine Vergangenheit hat mich immer wieder eingeholt. Ich konnte sie Dir meist gut verbergen. Irgendwann sollst Du sie doch direkt von mir erfahren. Nicht über andere. Ich habe versucht alles portionsweise aufzuzeichnen. Die Zeit mit Dir war es mehr als wert.

      Keine Unterschrift, wie unterbrochen. Vielleicht hatte sie noch etwas hinzufügen wollen. Oder es war das letzte, was sie geschrieben hatte.

      Wider Erwarten war das Geschreibsel von Mandy keineswegs langweilig und auch kein Gesülze. Helen war von der sprachlichen Dichte und vom Inhalt überrascht. Es las sich flüssig und war der Bericht über eine Missbrauchshistorie durch Vertraute und Familienangehörige vom siebenten Lebensjahr bis zu ihrem Tod. An einigen Passagen aus den Tagebüchern von Mandy war sie länger hängen geblieben. Sie war einfach sehr gespannt auf den Inhalt, weil Borhagen überall dort, wo Namen ins Spiel kamen, Zettel eingefügt hatte.

      Sie fasste das Gelesene kurz zusammen, das sie zunächst in ihren privaten Rechner eingab, mal knapp, mal etwas ausführlicher, mal wörtlich zitierend. Auch diese Zusammenfassung sollte eventuell schnell ausgedruckt und zur Verfügung gestellt werden können. Auch diese Texte würde sie vor Stefan zurückhalten. BH würde sie morgen einen kurzen und präzisen Bericht über den aktuellen Stand geben. Bisher sah alles nach einem unübersichtlichen Filz aus, in den nur langsam eine Struktur kam.

      Dennoch gab es Handlungsstränge zwischen Manuela, Mandy, Doreen, Maric, Dragan und Dr. v. Eynim. Helen fand sie.

      Helen hielt sich bei ihrer Zusammenfassung nicht an die Reihenfolge der Texte, denn Mandy hat das niedergeschrieben, was ihr gerade der Erinnerung wert schien, alles ohne eine strenge biographische Reihenfolge. Um alles zu verstehen, musste die

      Chronologie gefunden werden.