Marcel Kircher

Die Chroniken von Eskandria


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      „Hm?“ Abwesend blickte sie von einem schweren Buch mit rotem Einband auf.

      „Rüstzauber für Schiffe“, sagte ich kurz und zeigte ihr, worauf ich gestoßen bin.

       Hektisch riss Tamina das Buch an sich und las sich den Zauber durch. Grübelnd legte sie die Stirn in Falten und sagte erst einmal nichts.

      „Was meinst du?“, fragte ich nochmal.

      „Ich weiß nicht“, grübelte Tamina. „Behalte es mal im Hinterkopf.“

      „Du weißt schon, dass der Zauber etwa eine Stunde Wirkungsdauer benötigt?“, hakte ich nach.

       Sie rollte mit den Augen. „Du sollst mich doch nicht so unter Druck setzen. Ich bin längst kein Magiermeister wie Velrotach.“

      „Niemand setzt dich unter Druck. Jedoch spielen wir hier mit dem Leben einer Meerjungfrau und dem Leben vieler“, entgegnete ich. „Ich nehme es auf meine Kappe. Hätte ich nicht den Max bei Rodge gemacht, wären wir nicht in der Situation. Dann hätten wir Lavinia geopfert und alles wäre gut.“

      „Nein.“ Tamina stand von ihrem Bett auf, trat auf mich zu und legte ihre Arme um meinen Nacken. „Verzeih mir bitte, vielleicht habe ich ein bisschen überreagiert. Lass uns keine Zeit verlieren und den Zauber probieren. Entweder gehen wir mit wehenden Fahnen unter oder wir retten einer Meerjungfrau das Leben und treten den Seeschnecken in den Arsch.“

       Ich war erstaunt von Taminas Enthusiasmus. Die unsichere Zauberschülerin fing langsam an, Selbstbewusstsein zu entwickeln. „Dann legen wir los“, antwortete ich aufmunternd.

       Gemeinsam mit der Zauberschülerin arbeiteten wir jeden Zentimeter des Schiffs ab und belegten ihn mit dem Schutzzauber. Während der Anwendung war Tamina immer noch skeptisch, doch sie zog es konzentriert durch. Bis zum Nachmittag hatte sie es geschafft.

      „Du bist dir sicher, dass der Schutzzauber funktioniert?“, fragte Balon.

      „Es gehört zum kleinen Einmaleins der angehenden Magier. Ich möchte sehen, wie sich die Seeschnecken da durchsetzen wollen.“

      „Deine Worte in die Gehörgänge der Götter“, murmelte Balon skeptisch und Tamina senkte schüchtern den Blick.

      „Es wird schon gutgehen“, warf ich schnell ein und nahm mir den Heeresführer beiseite. „Musste das sein?“, flüsterte ich, als wir außer Hörweite waren.

      „Was?“, entgegnete Balon.

      „Sie ist ohnehin schon unsicher über die ganze Situation, da macht deine Skepsis es nicht gerade einfacher.“

      „Verstehe“, Balon hob die Augenbraue. „Ich glaube, ich sollte mich bei ihr entschuldigen.“

      „Wenn du sie weniger wie ein Kleinkind behandelst, sondern sie wie ein vollwertiges Mitglied unserer Gruppe wäre das schon hilfreich“, beschwor ich Balon. „Ja, sie lernt noch, aber wenn Velrotach weiterhin so dahinsiecht, dann ist sie die Einzige mit magischen Kenntnissen auf unserer Reise.“

      „Ist ja in Ordnung. Ich gebe mir Mühe. Ob uns das mit Rodge gelingt, weiß ich nicht. Er ist ein Raubein und grobschlächtig, das weißt du ja.“

      „Wo ist Lavinia?“, fragte ich, um das Thema zu wechseln.

      „In meiner Kabine. Eingeschlossen“, lautete die knappe Antwort.

      „Wenn Taminas Zauber seine volle Wirkung entfaltet, reicht das vollkommen aus“, meinte ich.

       Stumm führte mich Balon an Deck. Tamina sollte unten in ihrer Kabine bleiben, um sich von der Anstrengung der Zauber auszuruhen. Der Himmel zeigte sich wolkenverhangen und der Wind hatte aufgefrischt. Aus der Ferne hörten wir das Kichern von Baloras‘ Kriegern, die sich unserem Schiff näherten.

      „Werte Herren“, grüßte uns Rodge, „wir begrüßen die Seeschnecken.“ Der sarkastische Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören.

       Ein Seeschneck sprang an Deck. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt. „Schön“, meinte er, „die Mannschaft ist versammelt. Wo habt ihr die Meerjungfrau?“

      „In Sicherheit gebracht“, entgegnete Balon kühl.

      „Falsche Antwort Mensch.“ Ohne ein weiteres Wort sprang der Schneck zurück ins Wasser.

       Das Gekicher nahm schaurige Formen an und wir machten uns zum Kampf bereit.

      „Seid gnadenlos, Männer!“, befahl Balon, doch auch er konnte nicht vorhersehen, wo die Seeschnecken zuschlagen sollten.

       Wir vernahmen ein sägendes Geräusch. Ich wurde kreidebleich und fing den Blick von Balon, der eine Mischung aus Zorn und Enttäuschung vorwies.

      „Unter Deck“, befahl Rodge, der als Erster seine Sprache wiedergefunden hatte. „Sie greifen von unten an!“

       Wir hasteten unter Deck und hielten die Ohren offen. Das Gekicher nahm zu. Dann vernahmen wir einen stumpfen Schlag. Wasser drang an Bord.

      „So viel zum Thema Schutzzauber“, grummelte Rodge.

       Wir folgten dem einströmenden Wasser. Es kam aus der Kabine des Magiers Velrotach. Selig schlafend schien der Zauberkünstler in seinem Bett zu liegen, doch dann entdeckten wir eine größer werdende rote Lache auf seinem Kopfkissen. Balon und ich eilten zu dem alten Mann, doch es war schon zu spät. Die Seeschnecken hatten den geschwächten Körper Velrotachs gepackt und seinen Kopf gegen das hölzerne Kopfende geschlagen. Der Blutverlust und der einhergehende Schock waren wohl zu viel für den von Krankheit geplagten Magier.

      „Hier können wir nichts mehr tun“, schloss Balon. „Lasst uns das Schiff verteidigen.“

       Wir eilten wieder aus der Kabine des Magiers, als ich einen hellen Schrei vernahm.

      „TAMINA!“, schrie ich und eilte in Richtung ihre Kabine. Balon versuchte mich noch zurückzuhalten, doch es schlug fehl. Mit meinem Schwert bewaffnet stürzte ich auf die Seeschnecken, die Tamina entführen versuchten.

      „Dich nehmen wir auch mit Mensch, du wirst unserem großen Führer Baloras sehr gefallen“, höhnte der Seeschneck, der vorhin an Bord gesprungen war und seine Drohung hinterlassen hatte.

       Ich wollte reagieren, doch ein Schlag traf meinen Hinterkopf. Sterne explodierten vor meinen Augen und ich sank zu Boden in Ohnmacht.

       Als ich wiedererwachte, fand ich mich in einem eigenartigen Gebäude wieder. Heller Sand bedeckte den Boden und die Decken wiesen gotisch wirkende Wölbungen auf. Tamina war an meinen rechten Arm gefesselt und blickte sorgenvoll auf mich. Vorsichtig versuchte ich mich aufzurichten.

      „Wo sind wir?“, fragte ich schwach.

      „Im Reich der Seeschnecken“, lautete ihre Antwort.

       Ich wollte etwas erwidern, als eine Tür aufflog und zwei Seeschnecken eintraten.

      „Los! Aufstehen! Der große Baloras möchte euch sehen“, höhnte der Eine und packte mich grob am nicht gefesselten Arm.

       An unseren Fesseln geführt, liefen wir durch einen langen Korridor, ehe wir rechts abbogen und einen großen Saal betraten.