Marcel Kircher

Die Chroniken von Eskandria


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sie auf Höhe der schwimmenden Gestalt ins Wasser. Vom Lärm des Ganzen aufgeweckt, trat Balon ebenfalls an Deck. Schwer stöhnend zogen die Männer die Stange herein und so langsam wurde klar, was daran hing. Der Oberkörper wies klar menschliche Züge auf, lange blonde Haare fielen auf zarte Schultern, doch anstatt Beine und Füße hatte das Wesen Flossen. Eine Meerjungfrau kam es mir ins Gedächtnis. Zumindest wies die Gestalt starke Ähnlichkeiten mit den Meerjungfrauen auf, wie sie in Märchen beschrieben wurden. Mit einem letzten Ruck landete das Meereswesen auf dem Schiff. Hektisch zappelten ihre Flossen auf den hölzernen Planken. Während sich Balon um sie kümmerte, hatten wir andere Probleme. Schuppige Wesen mit dicken Panzern auf den Rücken sprangen an Deck und griffen uns an. Verzweifelt stellten wir uns den fünf Angreifern. Sie hatten dünne Lanzen zum Angreifen und waren entschlossen sie einzusetzen. Unser Vorteil lag in der strategischen Verteidigung. Die Angreifer stachen ohne Plan zu und versuchten uns zu erwischen. Durch geschickte Bewegungen gelang es uns den Stichwaffen auszuweichen und selbst mit unseren Schwertern Treffer im Brustkorb zu landen. Die Stiche waren nicht tödlich, doch reichten sie dafür zu sorgen, dass die Panzerwesen ihre Waffen fallen ließen. Als das Quintett entwaffnet war und in unsere zum Tod entschlossenen Augen blickte, sprangen sie von Bord und tauchten ab. Perplex schauten Rodge und ich uns an.

      „Was war das?“, fragte ich.

      „Seeschnecken“, entgegnete die Meerjungfrau. „Sie wollten mich töten.“

      „Jetzt bist du erst einmal in Sicherheit“, meinte Balon und kam mit einem Leinentuch, wickelte sie darin ein und trocknete sie ab. Das hatte bei der Meerjungfrau den Effekt, die trockenen Flossen sich in normale Beine verwandelte. Hastig ließ Balon ein weiteres Tuch bringen, um die Blöße des Meereswesens zu bedecken.

       Ich schluckte beim Anblick des Wesens und war irgendwie fasziniert von ihrer Grazie.

      „Soll ich mir vielleicht auch die Kleidung vom Leib reißen, damit ich hier Aufmerksamkeit bekomme?“, zischte Tamina. „Immerhin hat uns mein Schutzzauber vor größerem Schaden beim Drachenangriff bewahrt.“

      „Wie bitte?“

       Von Tamina fing ich mir eine heftige Ohrfeige für diese Entgegnung.

      „Tschuldige“, nuschelte ich, „jedoch habe ich noch nie so ein Fabelwesen so real aus der Nähe gesehen. Ich kenn sie nur von Büchern in meiner Welt. Dort hält man sie nur für Märchenfiguren, die nicht existieren. Außer in Andersens Märchen.“

      „In den Meeren Eskandrias sind sie keine Seltenheit. Normalerweise leben sie mit den Seeschnecken einheitlich und in Frieden zusammen.“ Balon hatte sich zu uns gesellt.

      „Was geschieht mit ihr?“, wollte Tamina wissen.

      „Zunächst sollten wir ihr erst einmal etwas anziehen. Du bist doch ein Mädchen, Tamina?“, versuchte Balon die Situation zu steuern.

      „Gut beobachtet“, lautete die kühle Antwort.

      „Meinst du, du könntest etwas aus deinem Gepäck für sie entbehren“, fragte der Heeresführer.

      „Bevor euch der Sabber noch weiter aus den Mündern läuft, helfe ich euch natürlich gerne weiter.“ Tamina verschwand in ihre Kabine unter Deck.

      „Kann es sein, dass sie irgendwie sauer ist?“ Balon schaute mich irritiert an.

      „Unsere Bienenkönigin ist ein wenig eifersüchtig auf unsere Gerettete“, antwortete ich.

      „Wieso?“

      „Als einzige Frau unter den ganzen Männern hier wurde sie kaum beachtet. Jetzt wird eine Meerjungfrau mit nudistischer Veranlagung gerettet und alle kriegen solche Stielaugen“, erklärte ich und fügte an. „Gut, ich natürlich auch.“

       Balon nickte, wenn auch leicht stirnrunzelnd.

       Tamina kam wieder zurück. Ein bordeauxrotes Kleid und ein weißes Unterkleid hatte sie in ihren Händen. Entschlossen ging sie zur Meerjungfrau hin und half ihr beim Ankleiden.

      „Muss das denn sein?“, jammerte die Gerettete. „Die Kleidung kratzt überall und sie verhüllt meine Schönheit.“

      „Glaub mir, du siehst auch so hübsch genug aus, Püppchen“, zischte Tamina leise. „Wie heißt du eigentlich?“

      „Wieso willst du wissen?“, fragte die Meerjungfrau. „Möchtest du meinen Namen wissen, um ihn zu nennen, wenn du mich tötest?“

      „Bei den Göttern, ich versuche dir zu helfen. Und im Gegensatz zu den ganzen gaffenden Speichelverlierern ist es dein reines Schicksal, was mich interessiert.“

       Tamina half ihr das Kleid zuzuschnüren. Sie ließ Vorsicht walten und das beruhigte die Meerjungfrau.

      „Schon gut. Ich bin Lavinia.“

      „Hallo Lavinia. Mein Name ist Tamina. War das jetzt so schwer?”, fragte die Zauberschülerin.

      „Nein. Ich glaube, das war einfach der Schock über den Angriff“, entgegnete Lavinia.

      „Warum haben die Seeschnecken dich angegriffen?“, wollte Balon wissen. „Die Meermenschen leben mit den Schneckenvölkern in Frieden.“

      „Die Schnecken haben einen neuen Fürsten, namens Baloras“, lautete die Antwort Lavinias. „Er hat die Diplomatie unter Wasser untergraben. Mein Vater und sein Heer führt Krieg gegen Baloras‘ Heerscharen. Diese Seeschnecken haben sich in meinen Palast eingeschlichen und wollten mich entführen.“

      „Das ist ja schrecklich“, entgegnete Balon mitfühlend.

      „Und auch gefährlich“, knurrte Rodge. „Du weißt schon, dass wir für die Seeschnecken jetzt ein Ziel sind?“

      „Die sollen ruhig kommen.“ Balon war konzentriert und bereit sich dem Feind zu stellen.

      „Wenn du meinst.“

       Die neue Gefahr des drohenden Angriffs der Seeschnecken ließ uns aufhorchen. Balon verstärkte die Tag- und Nachtwachen, doch es dauerte nicht lange, dass wir uns diesen kriegerischen Meeresbewohnern ein zweites Mal gegenübersahen.

       Später am Abend suchte Lavinia den Heeresführer Balon auf. Sie klopfte an die Tür zu seiner Kabine und trat ein.

      „Wie kommt es, dass so ein tapferer Krieger, wie Ihr es seid, alleine auf seiner Kabine ist?“, fragte sie und wickelte ihren Finger um ihre langen blonden Haare.

      „Mein Leben ist nun mal der Dienst im Heer des Königs von Eskandria“, erwiderte Balon. „Da bleibt keine Zeit für eine Frau an meiner Seite.“

      „Nicht einmal für eine kleine Affäre“, säuselte Lavinia und legte ihr linkes Knie auf Balons Bettlaken.

      „Am Rande der Schlacht und Kriegsstrategien austüfteln teilte ich durchaus mal mein Lager, aber ohne die Beziehung weiter zu vertiefen.“ Balon richtete sich auf. Er ahnte, was die Meerjungfrau von ihm wollte.

      „Wenn sich dein Volk mit dem Meinen verbinden könnte, wäre das nicht etwas. Die Menschen der Erde mit den Menschen des Wassers.“ Lavinia kniete vollends auf Balons Lager und rückte langsam an den Heerführer heran.

      „Du bist die Tochter des Herrschers der Meermenschen. Ich entspreche nicht dem Stand, den dein Vater für dich bestimmt hat.“ Balon rückte etwas näher und spürte den schmerzvollen Kontakt mit