Urs Rauscher

Das Multikat


Скачать книгу

sagt sie. Sie hat die Ironie in seinem Tonfall nicht bemerkt.

      „Dort surft es sich aber nicht so gut.“

      Kerstin hebt ihr Kopfkissen hoch, so dass die Stewardess die geschlossene Gurtschnalle sehen kann und blickt dann wieder zu ihm. „Kann man dort gar nicht surfen?“

      Widerwillig senkt er die Zeitung, in die er sich gerade vertiefen wollte. „Doch, aber nicht so gut.“

      „Man kann dort surfen?“

      „Ja, aber nicht so gut wie auf Hawaii.“

      „Was kosten die Flüge von Hawaii auf die Philippinen?“

      „Keine Ahnung. Unsummen.“ Er sieht sich die Titelseite an.

      „Ich habe letzten Monat Unsummen verdient.“

      Er hebt den Schild aus journalistischen Ergüssen, aber der wird durch das Schwert ihrer Hartnäckigkeit durchbohrt. Sie wiederholt ihre letzte Aussage. Also lässt er die papierene Trennwand wieder sinken. „Wir fahren nach Hawaii, und dabei bleibt es. Du wolltest surfen, also wird gesurft. Nächstes Jahr fliegen wir auf die Philippinen.“

      Er weiß genau, dass sie nächstes Jahr zu Ostern nicht auf die Philippinen fliegen werden. Er war einmal zu dieser Jahreszeit dort. Dort lassen sich die Einheimischen kreuzigen. Richtig kreuzigen, mit Nägeln, Schmerzen und viel Blut. Es kommt eine Menge schaulustiger Touristen. Auch Familien mit Kindern. Er will das nie wieder sehen.

      Endlich sind sie da. Das Flugzeug rollt auf der Landebahn in Honolulu aus. Es ist ewig her, dass er hier war, und er bildet sich wie bei jeder Wiederkehr ein, dass sich einiges verändert hat. Es gibt hier nun mehr Hochhäuser. Hochhäuser passen nicht zu so einer Insel. Aber sie passen nach Amerika und diese Inseln gehören zu Amerika. Gut, dass sie nicht in Honolulu bleiben.

      Kerstin neben ihm wird hibbelig. Sie kann die letzten Minuten im Flugzeug nur schwer ertragen. Am liebsten würde sie wie die anderen stehen und das Handgepäck herausholen, aber sie kann nicht, da der Gang bereits von Menschen ausgefüllt wird. Er selbst liebt diese Momente. Während alle von einem Fuß auf den anderen wechseln, schaut er hinaus auf das Rollfeld, wo das Flughafenpersonal seiner Arbeit nachgeht. Es ist der Stadt vorgelagert und liegt auf einer Halbinsel, die man dem Meer durch Aufschüttung von Geröll abgerungen hat. Im Hintergrund sieht er die Berge. Genau genommen ist es ein einziger. Und noch genauer genommen ist es auch kein Berg, sondern ein Vulkan. Die Inseln sind vulkanischen Ursprungs. Warum in aller Welt sollte es auch inmitten dieser Einöde aus Wasser Inseln geben? Honolulu ist auf Lava gebaut. Er würde gerne wissen, was größer ist: Die Gefahr, dass die Küstenstadt von einem Tsunami oder von einer Glutlawine begraben wird.

      Sie haben endlich ihr Gepäck. Man weiß nie, wann das mühsam eingepackte Eigentum einem auf diesem Laufband entgegen schwebt. Er betrachtet oft wie hypnotisiert den Schacht, aus dem es kommt. Manchmal erscheinen hunderte Gepäckstücke, ohne dass das eigene auftaucht, dann wieder kommt das eigene als erstes und man ist schnell aus dem Schneider. Schon mehrere Male hat er genau an dieser Stelle sein Gepäck verloren, oder einen Teil davon. In den meisten Fällen ist es wieder aufgetaucht. Einmal jedoch nicht. Er stand völlig ohne Anziehsachen in einem fernen Land. Er verbrachte viel Zeit im Hotelzimmer.

      Die Gepäckrückgabe ist ein guter Ort, um Frauen kennenzulernen. Zumindest, wenn sie alleine reisen. Hier ist jeder zum Warten gezwungen. Er sucht die Menschen, die den Koffercircuit belagern, nach allein reisenden Frauen ab, aber er kann keine erkennen; Kerstin tadelt ihn mit einem ihrer bösen Blicke.

      Laut Auskunft der Reisegesellschaft werden sie am Flughafen abgeholt und in den Norden der Insel gefahren. Ihr Resort ist in Wimea Beach, an der Nordküste, die sich zu dieser Jahreszeit am besten zum Surfen eignet, wie er gelesen hat. Dort war er noch nicht. Soweit er sich erinnern kann, kennt er nur die Surfstrände nahe der Hauptstadt. Eine grässliche Kulisse.

      Sie treten aus der großen Glastür des Flughafens ins Freie. Hier fahren Busse und Taxis ab und sie stellen sich ein Stück abseits des Eingangs, um auf ihren Shuttleservice zu warten. Nicht den Shuttlebus in die Stadt, den die meisten Flugreisenden in Anspruch nehmen, sondern den direkt zu ihrem Hotel. Gottseidank sparen sie sich diesen hässlichen Moloch mit seinen Hochhäusern direkt am Strand. Er kann diese Stadt so wenig leiden wie Miami.

      Obwohl es erst Anfang April ist, ist die Luft hier schon so warm wie in Deutschland im Hochsommer. Noch stehen vereinzelt Wolken am Himmel, aber die Sonne findet ihren Weg auf die Häupter der Hauptstadtbewohner. Als er kurz aus dem Schatten tritt, spürt er ihre unerbittliche Strahlkraft. Er ist froh, nicht mehr in Deutschland zu sein. In Deutschland war er hingegen froh, nicht mehr in Bhutan zu sein. Dort war es im November bitterlich kalt. Er sehnte sich dem deutschen Februar entgegen.

      Die Stadt hat nichts von einem Tropenparadies. Die Menschen, die hier leben, sind Amerikaner und als solche sind sie geschäftig und ungeduldig. Nichts von der asiatischen oder karibischen Gemütlichkeit findet man hier. Alles wirkt wie Oklahoma City vor einer exotischen Kulisse. Schon am Flughafen geht der Stress los: Hupende Taxis, rennende Geschäftsleute, gehetzte Urlauber. Er wünscht sich den Emirateflughafen mit seiner indischen Gemütlichkeit zurück.

      „Wann kommt er denn endlich?“, fragt ihn Kerstin.

      „Unser Shuttle?“, fragt er zurück, sichtlich überfragt.

      „Ja. Es hieß doch, man holt uns vom Flughafen ab.“

      „Ja.“

      „Und was ist jetzt?“

      Er starrt sie verständnislos an. „Weiß ich das?“

      „Du warst doch schon mal auf Hawaii.“

      „Hm. Doch, ich erinnere mich“, fühlt er sich zu seltenem Sarkasmus gereizt. „Die Uhrzeit ist hier eine andere als auf dem Festland. Deswegen kommt es ständig zu Missverständnissen.“

      „Sehr witzig.“ Sie sucht irgendetwas in ihrer Handtasche. Schließlich setzt sie sich ihre Sonnenbrille auf. Im Schatten.

      Er lässt nicht locker: „Hier läuft viel schief. Die sind hier nicht nur bei der Zeit zurück. Zum Beispiel gibt es auch kein Bier.“

      „Kein Bier?“

      „Der Import ist so teuer.“

      „Wirklich?“, sie beäugt ihn kritisch, um zu sehen, ob er flunkert.

      Er bleibt standhaft. „Wirklich. Hier gibt es nur den Reisschnaps der Eingeborenen. Ich werde wohl ohne Alkohol auskommen müssen.“

      „Das tut mir aber leid“, sagt sie spitz.

      Bier ist sein Lieblingsgetränk. Kerstin trinkt gerne Bourbon, aber ihn kann man damit jagen. Das einzige alkoholische Getränk außer Bier, das er genießen kann, ist japanischer Sake, und, wenn er angetrunken ist, Wodka. Er hat sich vorgenommen, sich in der Freizeit so oft wie möglich zu betrinken. Freizeit bedeutet, nicht an der Überwindung zu arbeiten, die das Surfen ihn kosten wird. Selbstverständlich gibt es hier Bier. Leider nur die amerikanische Plörre. Amerika ist für einen Bierliebhaber wie Stallmeister das schrecklichste Reiseland. Wie man ein so heiliges Gebräu derartig entweihen kann, ist ihm ein Rätsel. Nicht einmal die Russen schaffen das.

      Kerstin verwickelt einen Gepäckträger mit Trolley in ein Gespräch. Weil ihr langweilig ist. Obwohl Stallmeister viel gereist ist, kann sie besser Englisch als er. Akzentfreier. Sie ist ausgebildete Dolmetscherin. In den ersten Berufsjahren hat sie viel gedolmetscht. Nicht als Konferenzdolmetscherin, sondern als Gesprächsdolmetscherin. Das heißt, sie war bei Treffen von Wissenschaftlern, Geschäftsleuten und Politikern dabei. Einmal war sie bei einer Zusammenkunft von Kohl, Clinton und Jelzin dolmetscherisch tätig. Durch das Passivtrinken von Jelzins Atem, behauptet sie, sei sie irgendwann angesäuselt gewesen. Kohl habe nach Saumagen gerochen und Clinton nach Eau de Toilette. Weil Clintons persönlicher Dolmetscher wegen Durchfall ausgefallen sei, habe sie in beide Richtungen übersetzt. Clinton habe sie danach in seine Suite eingeladen. Sie habe dankend abgelehnt und sei mit Kohl essen gegangen. Nachts habe sie sich mit den Dolmetschern von Jelzin betrunken. Die drei lustigen Politiker seien, so lautete die Bemerkung eines der Dolmetscher, die Dreifaltigkeit