Urs Rauscher

Das Multikat


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möchte, dass er nach Hause zurückkehrt. Gemeinsam versuchen die beiden Festsitzenden herauszufinden, wer diese Personen sind und ob sie vielleicht identisch sind, doch bald resignieren sie und verfallen dem Alkohol. Weil die Dänin unter dem Einfluss des Rausches aus ihrer skandinavischen Erstarrung auftaut, verliebt er sich ein wenig in sie. Aus Leidenschaft, Langeweile und um sich zu wärmen, haben sie ausgiebig Sex. Er liebt ihren langen Körper mit dem kleinen weiblichen Waschbrettbauch, ihre festen Brüste, das glatte blonde Haar. Solange er Sex hat, denkt er nicht an Deutschland und seine gesichtslosen Gegenspieler. Er probiert mit ihr alles aus, was er sich bei Kerstin nicht traut. Er möchte in diesem perfekten Körper versinken, ein Teil von ihm werden. Jedes Mal, wenn er kommt, zieht es ihn in sie hinein, als wäre sie ein schwarzes Loch im Universum, durch das er auf die andere Seite sehen kann.

      Er wacht auf und merkt, dass er einen Steifen hat und einen Samenerguss hatte, und kennt den Ejakulationsgrund. Er merkt zudem, dass nicht das ihn geweckt hat, sondern Hundegebell. Oder besser Hundegejaule. Irgendeine Töle heult zum Gotterweichen. Sie heult zwei Minuten, fünf Minuten, zehn Minuten. Er versucht, wieder einzuschlafen, aber das ist ganz und gar unmöglich. Mehrfach dreht er sich von einer Seite auf die andere. Dann vergräbt er den Kopf unter der Bettdecke, die er im Schlaf runter geworfen hatte. Dann versucht er es mit den Ohrstöpseln, die er auf Reisen stets dabei hat, aber auch die helfen nicht. Es scheint, als würde der Köter auf einer Frequenz jaulen, für die der Kunststoff in seinen Gehörgängen durchlässig ist. Er übt sich in Geduld, ist sich sicher, dass sich bei einem Hotel dieser Güte bald ein Angestellter des Problems annehmen wird. Er kann ja schließlich nicht der einzige sein, der von dieser wahnsinnigen Sirene am Schlafen gehindert wird. Doch auch nach einer halben Stunde geschieht nichts. Kerstin schläft seelenruhig. Auch sie hat die Decke vom Bett geworfen. Er betrachtet ihren glatten, weißen Venushügel, ihre Schamlippen. Eine Weile lang lenkt ihn das ab, dann hat wieder der Lärm seine Aufmerksamkeit im Griff. Er fragt sich, ob er nicht doch von Menschen kommt. Von Menschen, die Sex haben.

      Mit schwerem Kopf zieht er sich an, denn er ist überzeugt, dass nur er selbst das Problem lösen kann. Er öffnet die Tür, und obwohl der Flur nur schwach beleuchtet ist, sieht er einen fülligen Mann durch die Nachbartür verschwinden. Es stellt sich ihm die Frage, ob es bei diesem Geräuschpegel überhaupt Sinn macht, an Zimmertüren zu horchen, was aber seinen Zorn nicht verringert. Er war es wieder, ist er sicher: Auf dem Schlafanzug des Lauschangreifers waren Blüten im inseltypischen Stil gedruckt.

      Zu dieser Uhrzeit sind nur gedimmte Lampen an, aber das reicht ihm, um hinunter in die Lobby und von dort aus in den Garten zu gelangen. Die Rezeption ist verwaist. Was ihn stutziger macht, ist, dass die Terrassentür offen gelassen wurde. Über die Holztreppe erreicht er den Bereich, in dem sich die Bungalows befinden. Aus dieser Richtung kommt der Lärm. Diese Nacht ist eine Neumondnacht und es ist stockfinster. Kurz bevor er die genaue Position des tierischen Lautsprechers bestimmen kann, bricht das Gejaule ab. Für Sekunden ist es still und er hört nur das Schlagen der Wellen auf den Sand. Gerade, als er sich umdrehen will, weil er das Problem für gelöst hält, fängt es wieder an.

      Dann sieht er das Tier. Es ist an das Verandageländer eines Bungalows gebunden. Es heult den unsichtbaren Erdtrabanten an; es weint um den Mond, der nach dem Sonnenuntergang verschwunden blieb. Die Melodie ist markerschütternd. Stallmeister kann sich nur an der grünen Notbeleuchtung vor dem Bungalow orientieren. Der Hund beachtet ihn nicht, als er näher kommt.

      In Indien wurde er oft von Hunden wachgehalten. Es gibt sie dort wie Sand am Meer. Überall stößt man auf streunende, herrenlose Geschöpfe, die sich zum Wolf zurückentwickeln. Rotten sie sich zusammen und treten in Rudeln auf, sind sie sehr gefährlich. Bei seinen ersten Besuchen in Indien waren noch Prämien auf das Töten von Hunden ausgesetzt; man lieferte Hundeschwänze bei der Polizei ab und bekam dafür einen kleinen Betrag, für manche Einheimische ein Vermögen. Obwohl viele Inder arm waren und Hundeschwänze sammelten wie Pfandsammler in Deutschland Flaschen, wurde die Hundeplage nie ausgerottet. In den letzten Jahren haben Tierschützer ein Tötungsverbot erwirkt, so dass die Viecher ihre einstmaligen Herren ungestörter denn je terrorisieren. Stallmeister hat es nie wegen des Geldes getan, aber wegen Bedrohung oder Ruhestörung hat er schon Hunde in die ewigen Bellgründe geschickt. Natürlich weiß Kerstin nichts davon.

      Er beschließt, allen Folgeschwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Er wird das Problem direkt und nachhaltig lösen. Er wird das tun, was am wenigsten Aufwand verspricht. Hunde, dass weiß er von den Indern, werden ohnehin sofort irgendwo wiedergeboren. Mord ist für die Anhänger der Reinkarnationslehre nichts weiter als das Betätigen eines kosmischen Beamers. Es ist also besser, er beamt dieses Wesen nun weit weg von hier.

      Er findet einen größeren Stein, der mit anderen ein Blumenbeet umfriedet, und nimmt ihn heraus. Dann schleicht er sich von hinten an den Hund heran. Hilfsbereite Inder haben ihm gezeigt, wohin er zielen muss. Mit einem genauen Schlag trifft er das Tier zwischen den Augen. Das Geheule stirbt mit seinem Interpreten. Ein kurzes Winseln, und es ist Ruhe.

      Plötzlich geht im Bungalow das Licht an. Stallmeister streift dem Hund die Leine über den Kopf und zerrt den nicht gerade leichten Tierkörper in einen nahegelegenen Busch. Der Schlag war beinahe unblutig und so gibt es außer der gelockerten Hundeleine keine Spuren.

      „Janina“, ruft eine Frauenstimme. „Wo bist du?“ Die Frau spricht schweizerdeutsch. Das Verandalicht wird angemacht. Er wirft den Stein ins Unterholz, stellt sich in den Schatten. Eine junge Frau im langen Schlafhemd tritt auf die Veranda. Als sie die hundelose Leine sieht, erschrickt sie. „Janina? Mein Gott! Janina!“

      Er versucht, so leise wie möglich zu atmen, aber das ist gar nicht nötig, die Schweizerin spricht aufgeregt vor sich hin, sie läuft um den Bungalow und kurz in den Palmenhain hinein. Immer wieder ruft sie den Namen ihres Hundes. Dann kehrt sie wieder zurück. Sie macht zwei Meter vor Stallmeister halt. Ihm bleibt das Herz stehen. „You, stop hiding. Come out!“

      Er erschrickt, aber dann bemerkt er, dass die Spitzen seiner Flip-Flops aus dem Schatten der Palme herausragen. Notgedrungen macht er einen Schritt ins Licht. Sie sieht ihn feindselig an. Ihre Wut ist so groß, dass sie offenbar keine Angst vor ihm hat, obwohl er als Mann nachts um ihren Bungalow herumschleicht. „Where is my dog?“, herrscht sie ihn an.

      „Sie können deutsch sprechen“, sagt er mit so unschuldiger Stimme wie möglich.

      „Wo ist meine süße, kleine Hündin? Sagen Sie schon!“

      „Ich habe keine Ahnung, wo Ihr Hund ist“, lügt er.

      „Und was machen Sie dann hier?“

      „Ich habe den Hund gehört und wollte wissen, warum er so jämmerlich... ähm... weint.“

      „Sie hat nicht geweint!“

      „Dann eben jault.“

      „Janina jault nicht!“ Das Gesicht der Schweizerin sieht jetzt aus, als wolle sie ihm an die Gurgel.

      „...warum er nicht schläft“, verbessert sich Stallmeister.

      „Und dann war nur noch die Leine da?“, will sie wissen.

      Schauspielernd zuckt er mit den Schultern. „Die Leine habe ich gar nicht gesehen.“

      Sie glaubt ihm. Zögerlich kommt sie auf ihm zu. „Es tut mir leid, dass ich so reagiert habe, aber ohne Janina kann ich nicht leben. Niemals.“ Sie hält ihm die Hand hin. „Ich heiße Nicola.“

      Er reicht ihr die Hand. „Ich bin Mark. Er wird schon zurückkommen.“ Erstmals lässt ihn der kaltblütige Totschlag frösteln.

      „Sie! Sie wird zurückkommen. Sie muss zurückkommen!“

      „Hunde kommen immer zu ihren Herrchen zurück“, sagt er. Er weiß genau, dass sich Hunde immer verlaufen.

      „Frauchen. Ich bin ein Frauchen. Merken Sie sich das!“

      „Okay. Frauchen. Sie können mich übrigens duzen.“

      „Du mich auch“, sagt sie und plötzlich fällt sie ihm an die Brust und weint los. Er tätschelt ihr die Schulter,