Urs Rauscher

Das Multikat


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Übungen fortschreiten.

      Vor der Rückfahrt stellt sich Stallmeister neben die Fahrerkabine des Golfmobils und drückt den alten Mann auf den Beifahrersitz. Der will mit ihm kämpfen, sieht aber ein, dass das keinen Sinn macht. Trogbert quetscht sich neben Kerstin. Sie freut sich. Stallmeister lässt den Motor an und findet einen kleinen Weg, der zwischen der Surfschule und einem Restaurant hindurch führt. Auf diesem fährt er hinunter zum Strand. Das Golfmobil passt gerade so hindurch, ohne Schrammen abzubekommen. Dort, wo der Sand beginnt, gibt er Gas. Noch bevor die Räder durchdrehen, schaffen sie es durch den Schwung in den Bereich, in dem der Sand durch die Wellen glatt- und festgespült ist. Stallmeister drückt das Gaspedal durch und weicht geschickt dem Wasser aus, das in Intervallen über den Sand spült. Er holt alles aus dem Minitaturmotor heraus und Justin ist begeistert. Nur Kerstin hat Angst und klammert sich an Trogberts massige Arme, weswegen Stallmeister am Ende des Strandes beinahe vor Wut eine Palme hochfährt. Aber nur beinahe, denn das Golfmobil steckt fest. Trogbert und er befreien es und schieben es nach oben zum Hotel. Kerstin hilft dem Tattergreis hinauf. Man sehe sich später an der Bar, droht der Architekt.

      Gerade als sie den ersten Fuß auf die Treppe zu ihrem Zimmer gesetzt haben, spricht sie jemand von hinten an. Es ist der Hotelmanager, Andros. Er spricht mit bedrückter Stimme. Es habe sich etwas ereignet, was die Abendplanung verändert habe. Man könne nicht wie sonst um sieben Uhr das Abendessen servieren. Ein weiblicher Hotelgast habe heute morgen seinen Hund vermisst gemeldet. Seitdem seien mehrere seiner Angestellten auf der Suche nach dem armen Tier gewesen, doch ohne Ergebnis. Zwei Stunden nachdem man die Suche aufgegeben habe, habe ein älteres Ehepaar jedoch beim Baden eine schreckliche Entdeckung gemacht. Unweit des Pavillons sei eine Hundeleiche angetrieben worden. Als man die vermeintliche Angehörige des Haustiers hinzurief, habe diese unter Tränen die Identität ihres geliebten Halbmenschen bestätigt. Es habe sich laut dem hinzugezogenen Rechtsveterinär aus Honolulu um einen Badeunfall mit Todesfolge gehandelt, bei dem der Hund wohl mit der Achillesferse des Hundes, dem Stirnbein, gegen einen Stein geprallt war. Es habe viel Trauer, Heulen und Zähneknirschen unter den Hotelgästen und Angestellten gegeben. Auch er selbst sei untröstlich. Wegen des Schreckens und der Tragik dieses Ereignisses habe man den Tag im Hotel zum Trauertag erklärt. Alkoholische Getränke erhalte man heute zum halben Preis. Bei Einbruch der Dunkelheit gebe es eine Feuerseebestattung, bei der man ein Boot mit der Leiche des Hundes zu Wasser lasse und es anzünde, um den brennenden Schwimmsarg auf den Ozean hinaustreiben zu lassen. Dabei handele es sich um eine hawaiianische Begräbniszeremonie. Im Anschluss gebe es im Pavillon ein Barbecue.

      Stallmeister und Kerstin gönnen sich ein Bier und einen Caipirinha, und er muss seine Freundin beruhigen - wegen der Geschichte mit dem Hund. Er versichert ihr, dass kein Hundemörder hier sein Unwesen treibe. Als sie wissen will, warum ein Hund mitten in der Nacht baden gegangen sein soll, meint er, das täten Hunde bei Neumond öfter; sie seien dann besonders verwirrt. Später geht er hinaus auf die Terrasse, um zu rauchen, drinnen ist wie im ganzen Land Rauchverbot. Er vermisst die Rauchboxen.

      Danach gehen sie auf ihr Zimmer, ziehen sich aus und sehen nackt fern. Als auch das Kerstin nicht von der Hundegeschichte ablenken kann, haben sie Sex.

      Pünktlich um halb sieben geht die Sonne unter. Sie beschließen, der Begräbniszeremonie aus einiger Entfernung zuzusehen. Von der Terrasse aus betrachten sie das Schauspiel. Der Bereich um den Pavillon herum ist hell erleuchtet. Zusätzlich zu den Fackeln hat der Manager Scheinwerfer aufgetrieben. Stallmeister kann Nicola erkennen, die in einem weißen Kleid mit schwarzem Schleier in der Mitte der Leute steht. Außerdem sieht er den Hotelmanager, Jim und Trogbert, der als einziger nicht steht, sondern sich mit einem Drink auf einen Stuhl gesetzt hat. Ein Hawaiianer polynesischer Herkunft im Lendenschurz leitet die Zeremonie. Er scheint ein paar Beschwörungen und Himmelsanrufungen zu sprechen. Dann tanzt er und Stallmeister meint ihn singen zu hören. Die Menge teilt sich und gibt den Blick frei auf das Boot, das auf dem Strand liegt. Der Hund ist nicht zu erkennen. Drei weitere Hawaiianer in traditionellem Kostüm schieben das Boot hinaus, einer führt es. Dann lässt sich der Priester von einem Hotelangestellten eine Fackel geben. Er macht mehrere Verbeugungen und zündet dabei beinahe eine betagte Frau an, die von ihrem Mann vor den Flammen gerettet wird. Als sich die Aufregung darum gelegt hat, wirft er die Fackel ins Boot. Die Holzscheite flammen auf. Sein Gehilfe schiebt das schwimmende Feuer in die pechschwarze See hinaus. Es geht ein Raunen durch die Menge. Stallmeister sieht, wie Nicola zusammenbricht. Erst fällt sie auf die Knie, dann mit dem Oberkörper vornüber in den Sand. Jim und der Manager helfen ihr hoch. Jeder der Anwesenden scheint ihr anschließend sein Beileid auszusprechen.

      Stallmeister hat jetzt Hunger. Er überredet Kerstin, deren Augen feucht sind, hinunter zu gehen. Tränenüberströmt und ohne sie zu beachten rennt Nicola an ihnen vorbei zum Hotel. Die Leute haben schon die Plätze an den Tischen eingenommen. Da sitzen sie und warten auf den Leichenschmaus, den besten Teil einer jeden Beerdigung - oder Bewasserung, wie man das heutige Spektakel treffender nennen sollte. In der Ferne, wo man den Himmel nicht vom Meer unterscheiden kann, flackert ein hellgelber Punkt.

      Als wäre es verabredet gewesen, sind an Jim und Trogberts Tisch noch zwei Plätze frei. Der Touristenbetreuer winkt ihnen zu und sie nähern sich. Trogbert gefällt es sichtlich, dass sie gekommen sind. Er begrüßt die beiden überschwänglich und macht Anspielungen auf den Surfkurs. Jim hat noch Tränen in den Augen, die Beisetzung hat ihn mitgenommen, seltene Spuren in seinem sonst makellosen Gefühlskleid hinterlassen. „Die Trauernde“, erfahren sie von Trogbert, „will sich später auch noch zu uns setzen. Nur jetzt ist ihr nicht danach.“

      „Kein Wunder“, sagt Kerstin.

      Alle blicken Stallmeister an, aber dieser sagt nichts.

      „Schlimm, die Geschichte mit dem Hund“, meint Trogbert.

      Jim verzieht theatralisch das Gesicht. „Ja. Würklik!“

      „Sprechen wir nicht mehr darüber“, befindet Stallmeister.

      „Rue düses Wösen ün Früden“, sagt Jim mit brechender Stimme. Dann schüttelt er ungläubig den Kopf.

      „Beinahe hätten wir heute eine weitere Leiche zu beklagen gehabt“, meint Trogbert zu Jim.

      „Wos?“

      „Die Surflehrerin. Sie ist fast ertrunken.“

      „Wie bütte?“ Jim traut seinen Ohren nicht.

      „Stallmeister hat sie gerettet“, informiert der Architekt ihn trocken. „Dann hat er uns gerettet. Er hat uns über den Strand gefahren. Große Leistung, mein Lieber!“

      Jim sieht Stallmeister an und es erscheint ein Lächeln auf seinem tränengeröteten Gesicht. „Ja, Justin hot mür das schon örzählt. Du büs großortig göfohren.“

      Stallmeister ist die Lobhudelei peinlich. „Na, ja.“

      „Die Straßen hier sind ja richtig gefährlich“, nimmt Kerstin das Thema zum Anlass, sich zu echauffieren.

      „Fünde ik nikt“, meint Jim. „Wönn mon fohren konn... “

      Es müsste mehr Ampeln geben, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Bremsschwellen, beschwert sich Kerstin.

      Es gebe genug Ampeln. Zu viele, meint der leidenschaftliche Autofahrer mit dem Hang zu sentimentalen Ausbrüchen. Dann fällt ihm eine Anekdote ein. Dass es hier auf einer der Nebeninseln keine Ampel gebe, erwähnt er stolz. Nicht eine einzige, noch nicht einmal an der größten Kreuzung des Ortes. Dort gebe es nach englischem Vorbild einen Kreisverkehr.

      Trogbert greift die Bemerkung auf. Manche der dort aufgewachsenen Kinder wüssten dann noch nicht einmal, was das sei, wenn sie einmal in Honululu, Waikiki, Tiki-Taka oder sonstwo die Straße überqueren wollten.

      Der Halbvietnamese stimmt ihm zu, sagt aber, diese rückständigen Polynesier brauche man in Honolulu sicher nicht.

      Trogbert entrüstet sich über diese abschätzige Bemerkung, kommt dann aber wieder auf das Thema Ampeln zurück. Er wolle unbedingt mal auf diese Insel. In Indonesien gebe es die Gili Islands, wo Fahrzeuge verboten seien. Dort habe er nie eine Ampel gesehen. Aber dort, wo es Fahrzeuge gebe, müsse es auch Ampeln geben. Stallmeister