Urs Rauscher

Das Multikat


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beiden setzen sich auf die Stufen der Veranda und sie zündet sich eine Zigarette an. Stallmeister, der seit dem Start in Deutschland nicht mehr geraucht hat, lässt sich ebenfalls eine Zigarette geben. Er findet, ein Mord ist ein feierlicher Grund, die erste Zigarette zu rauchen. Die schmeckt jedoch ekelhafter als das Bier vorhin und er muss husten.

      Nicola klopft ihm auf den Rücken. „Nichtraucher, was?“

      „Nein“, keucht er. „Aber die hier ist schrecklich.“

      Sie wird nachdenklich. „Morgen muss ich Janina suchen. Du musst mir helfen, sie zu suchen.“

      „Ja“, sagt er unaufrichtig, um dann auch noch sich selbst etwas vorzumachen: „Aber sie kommt sicher schon vorher zurück.“

      „Und was mache ich in der Zwischenzeit?“, fragt sie und schaut ihn Mitleid heischend an.

      „Schlafen“, sagt er.

      Sie bläst Rauch aus. „Ich kann nicht schlafen, so lange Janina nicht bei mir ist.“

      „Dann musst du etwas lesen“, schlägt er arglos vor.

      „Ich kann nicht lesen, wenn nicht irgendjemand bei mir ist“, gibt sie zurück.

      „Dann musst du eben wachliegen“, sagt er und steht auf. Die halb gerauchte Zigarette landet in dem Busch, in dem der Hund liegt. Er überlegt, wie er den Kadaver dort weg bekommt, bevor sie ihn womöglich am nächsten Tag findet.

      „Bleib du doch bei mir“, fleht sie und klammert sich im Sitzen an sein Bein.

      „Oh, nein“, sagt er. „Ich muss zurück zum Hotel. Meine Freundin... “ Er kann sich befreien.

      Sie zieht ihr Schlafhemd über die Knie hoch und entblößt ihren Slip. „Bleib bei mir“, flüstert sie und drückt die Zigarette aus.

      „Ich würde gerne“, sagt er, furchtbar in Versuchung. Gerne würde er es jetzt doggystyle mit ihr treiben, und seine Lust wirft ihm im wahrsten Sinne des Wortes einen Knüppel zwischen die Beine. Eilig zieht er sein T-Shirt weiter nach unten. „Aber es geht wirklich nicht. Tschüss, Nicola.“

      „Tschüss“, sagt sie enttäuscht, bevor er entschwindet. “Kommst du morgen zum Suchen?“

      Er antwortet nicht mehr.

      In der Lobby des Hotels wartet er. Dann steigt er über die Terrasse wieder die Treppe hinunter. Er schleicht sich zum Strand und macht einen weiten Umweg um den Palmenhain, um sich dann von hinten an den Bungalow heranzupirschen. Eine Weile muss er suchen, dann findet er den Busch wieder, in dem Janina ihren ewigen Schlaf schlummert. An den Vorderläufen zerrt er den Corpus Delicti zwischen den anderen Bungalows und Palmen hinunter zum Meer. Manchmal bleibt er damit an Büschen, Steinen oder heruntergefallenen Palmwedeln hängen, die er in der Dunkelheit nicht sieht. Manchmal stößt er mit dem Rücken an einen Palmenstamm. Die Arbeit der Nacht kostet ihn eine Menge Kraft und da er trotz Restrausch aufgewühlt ist, hofft er, dass die körperliche Betätigung ihn so erschöpft, dass er noch ein paar Stunden Nachtruhe bekommt, bevor er sich am nächsten Morgen in Gefahr begibt, wie das Tier als Wasserleiche zu enden. Er betet, dass er keine tiefen Spuren im Sand hinterlässt, über den er die Leiche ins Wasser zieht. Die Sterne werfen ihr dünnes Licht auf den leblosen Hundekörper, dessen Gliedmaßen von der Brandung hin und her bewegt werden. Stallmeister murmelt eine Seegrabrede mit den Worten zu dir nehmen oder den Fluten übergeben oder in Frieden leben. Dann streift er Flip-Flops und Shorts ab, watet ins Wasser und schleudert das Ding mit aller Kraft einen Meter hinaus. Wellen verschlucken es und es treibt ein Stück ab, bevor es sinkt.

      Blut dürfte nirgendwo zurückgeblieben sein. Der Hund wies nur oberhalb der Nase eine kleine dunkelrote Einfärbung des Fells auf. Sollte man den Leichnam finden, wird es aussehen, als wäre es ein Badeunfall gewesen. Die Methode, die er angewandt hat, ist schnell, sauber und stubenrein. Die Inder nennen sie aus diesem Grund die Windhund-Methode.

      Stallmeister wischt den Sand dort glatt, wo der Pflug aus Fleisch und Fell eine Furche gezogen hat. Dann macht er sich endgültig auf den Rückweg. Im oberen Hotelflur lauscht er an der Tür des Nachbarzimmers; es fühlt sich wie eine Revanche an. Der Gast schnarcht, als wolle er die Geräuschproduktion brasilianischer Waldarbeiter durch den Kakao ziehen. In Stallmeisters Zimmer stöhnt Kerstin leise auf, als er sich ins Bett legt. Obwohl er abgekämpft und sein Kopf leer ist, kann er nicht schlafen, weil sein Körper wieder nach einer Zigarette verlangt. Die vorhin hätte er niemals rauchen dürfen. Er hatte nicht nur keine Zigarette mehr gebraucht, er hatte sogar vergessen, dass ihn der lange Flug entwöhnt hatte. Er hat nicht einmal mehr Zeit gehabt, stolz auf sich zu sein, und jetzt ist er wieder vollständig abhängig. Irgendwo in seinem Gepäck müssen die Duty-Free-Zigaretten stecken, die man dort am billigsten kaufen kann, wo man sie nur in verqualmten Boxen rauchen darf. Aber er kann sie nicht lärmend raus kramen. Er kann Kerstin nicht wecken, nur weil er jetzt leidet.

      Irgendwann schläft er ein und genießt den traumlosen Schlaf der Gerechten, bis er schließlich von ins Zimmer flutendem Sonnenlicht geweckt wird.

      Noch im Halbschlaf beginnen sie ihren Beischlaf, an dessen Ende sie vollkommen ausgeschlafen sind. Das Frühstücksbuffet ist festlich. Sie schlagen sich den Bauch voll, obwohl sie noch Sport treiben sollen. Ein wenig brummt Stallmeister vom Trinken am Vorabend der Schädel, aber nach dem Konsum von einem Liter Kaffee fühlt er sich besser. Er zündet sich eine Zigarette an, während er auf der Terrasse steht und den Hotelangestellten zuhört, die in heller Aufregung sind. Mehrfach hört er das Wort dog, und so zieht er sich schleunigst wieder ins Innere des Gebäudes zurück. Kerstin dient ihm als Alibi.

      In der Lobby warten sie auf Jim. Sie haben sich in Badesachen gekleidet, die man leicht wieder ausziehen kann, wenn man sich für den Tanz auf den Wellen in Schale werfen muss, und die man laut Jim für die Trockenübungen braucht; auch tragen sie nur die nötigsten Wertsachen wie Kamera und Zimmerschlüssel mit sich.

      Kerstin hat seit dem Abflug Angst, dass ihnen etwas geklaut wird. Geldbeutel, Pass und Handy liegen im Zimmer. Dort gibt es einen Safe, den Stallmeister für unknackbar hält, weil man ihn nicht entdeckt. Er hat die Form und das Aussehen eines DVD-Players und steht unter dem Fernseher, ist aber fest mit dem Zimmerboden verschraubt. Diebe, die nur die Elektronik klauen wollen, würden sich ganz schön über diese Extremsicherung wundern. Diebe, die es dagegen auf den Safeinhalt abgesehen haben, würden sich die Augen wund suchen.

      Das rote Ledersofa eignet sich wunderbar dazu, noch einmal die Augen zuzumachen, bevor man sie für immer schließt, weil man in mannshohen Wellen ertrunken ist. Stallmeister döst, bis er seine Freundin sich mehrfach räuspern hört. Durch die halbgeöffneten Augen erkennt er den dicken Deutschen, der Schlüssellöcher für Kopfhörer hält, den legendären König der Belästigung. Als er die Augen ganz aufgeschlagen hat, muss er feststellen, dass ihn der Dicke unverhohlen anlächelt. Es ist das verschlagene Lächeln eines Mannes, dem es egal ist, ob er abgelehnt wird oder nicht. Sofort setzt er sich kerzengerade hin und blickt zu Kerstin. Noch bevor er eine Zeitschrift als Sichtschutz ergreifen kann, spricht ihn der Mann an: „Na, auch zum Surfen hier?“

      Stallmeister tut so, als wäre nicht er gemeint.

      Der Mann wiederholt seine Frage.

      Stallmeister schaut Kerstin an, die zurückblickt und dabei in Richtung des Mannes nickt.

      Er versucht den Angriff zurückzuschlagen, indem er sich taub stellt: „Bitte?“

      „Sind Sie auch zum Surfen hier?“, fragt der Mann beharrlich.

      „Sie auch?“

      „Ja. Muss ich mal ausprobieren.“

      „Ja“, meint Stallmeister knapp. Wie man mit einem solch aufgedunsenen Körper surfen will, leuchtet ihm nicht ein.

      Er will sich endlich in eines der Hefte vertiefen, da spricht ihn der Mann wieder an: „Jim sollte doch schon längst hier sein.“

      Stallmeister sieht diesen Kerl, der auf seinem Sessel mehr hängt als sitzt, fragend in die Augen: „Wer?“

      „Jim.