gern aus dem herrlichen Tempel fortlaufen, wenn er nur in den engen Gassen von Nazareth hätte spielen dürfen.
Seltsam aber war, daß die Eltern immer vergnügter und froher wurden, je gleichgültiger der Knabe sich gebärdete. Sie winkten einander über seinen Kopf hinweg zu und waren eitel Zufriedenheit.
Schließlich sah der Kleine so matt und erschöpft aus, daß die Mutter glaubte, man hätte ihm zuviel zugemutet, und sie sprach: »Wir sind zu lange mit Dir umhergegangen. Komm, Du mußt Dich nun ein Weilchen gut ausruhen!«
Sie setzte sich an einer Säule nieder und sagte ihm, er solle sich auf die Erde legen und den Kopf in ihren Schoß betten. Das tat er auch und schlummerte sofort ein. Gleich darauf sagte die Frau zu dem Manne: »Ich habe mich vor nichts so geängstigt, wie vor der Stunde, die ihn in den Tempel von Jerusalem führen sollte. Ich glaubte, er würde für immer hier bleiben wollen, sobald er das Gotteshaus zu sehen bekäme.«
Und der Mann sprach: »Auch ich habe diese Reise gefürchtet. Zur Zeit seiner Geburt geschahen viele Zeichen und Wunder, die darauf hindeuteten, daß er ein mächtiger Herrscher werden soll. Aber was könnte die Königswürde ihm wohl anderes bringen als Sorgen und Gefahren? Ich habe es stets gesagt, daß es für ihn und für uns das beste wäre, wenn er nichts anderes würde als ein einfacher Zimmermann in Nazareth.«
»Seit seinem fünften Jahr«, antwortete die Mutter bedächtig, »sind keine Wunder um seinetwillen geschehen. Und er selber erinnert sich an nichts von alledem, was in seiner frühen Kindheit sich zugetragen hat. Er ist jetzt ganz wie ein Kind unter Kindern. Gottes Wille geschehe, aber ich fange fast an zu hoffen, daß der Herr in seiner Gnade einen anderen für die großen Schicksale auserwählen wird und mein Sohn bei mir bleiben darf.«
»Was mich betrifft,« sagte der Mann, »so bin ich sicher, daß wir nicht zu bangen brauchen, wenn er nur nichts von den Zeichen und Wundern erfährt, die sich in seinen ersten Lebensjahren begeben haben.«
»Ich spreche mit ihm niemals über all das Wunderbare,« sagte die Frau. »Dennoch fürchte ich stets, daß sich ohne mein Dazutun irgend etwas ereignen könnte, was ihn darüber aufklären wird, wer er ist. Vor allem fürchtete ich, ihn in diesen Tempel zu bringen.«
»Du kannst Dich freuen, daß die Gefahr überstanden ist,« entgegnete der Mann. »Bald haben wir ihn wieder bei uns in Nazareth.«
»Ich habe mich vor den Weisen im Tempel gefürchtet,« sprach die Frau. »Ich hatte Angst vor den Wahrsagern, die hier auf ihren Betteppichen sitzen. Ich glaubte, wenn er ihnen vor Augen käme, würden sie sich erheben, sich vor dem Kinde neigen und es als den König des Landes Judäa grüßen. Es ist sonderbar, daß sie seine Herrlichkeit nicht erkennen. Ist ihnen doch ein solches Kind noch niemals vor Augen gekommen!«
Eine Weile saß sie schweigend da und betrachtete das Kind. »Ich kann es kaum verstehen,« sagte sie schließlich. »Ich glaubte, wenn er diese Richter zu sehen bekäme, die im Hause des Geheiligten sitzen, um die Zwistigkeiten der Leute zu schlichten, und diese Lehrer, die zu ihren Schülern reden, und diese Priester, die dem Herrn dienen, so würde er aufwachen und sagen: ›Hier ist es, um hier unter diesen Richtern, diesen Lehrern, diesen Priestern zu leben, bin ich geboren worden.‹«
»Was wäre das wohl für ein Glück, inmitten dieser Säulengänge eingesperrt zu sitzen?« unterbrach sie der Mann. »Für ihn ist es besser, auf den Hügeln und Bergen bei Nazareth umherzuschweifen.«
Die Mutter seufzte ein wenig und sprach: »Bei uns daheim ist er so glücklich. Wie zufrieden ist er, wenn er den Schafherden auf ihren einsamen Wanderungen folgen darf, oder wenn er auf die Felder hinausgehen kann, um der Arbeit der Landleute zuzuschauen! Ich kann es nicht glauben, daß wir unrecht gegen ihn handeln, wenn wir ihn für uns selber zu behalten suchen.«
»Wir ersparen ihm nur das größte Leid,« antwortete der Mann.
Sie fuhren fort, sich in dieser Weise zu unterhalten, bis das Kind aus seinem Schlummer erwachte.
»Sieh da,« rief die Mutter, »hast Du Dich nun gut ausgeruht? Steh auf, denn der Tag neigt sich, und wir müssen zu unserem Zeltlager zurückkehren.«
Sie befanden sich im entlegensten Teil des Tempelgebäudes, als sie dem Ausgang zustrebten.
Einige Augenblicke später mußten sie ein altes Gewölbe durchwandern, das noch aus jener Zeit herstammte, als zum erstenmal ein Tempel an dieser Stelle errichtet worden war, und dort stand, an eine Wand gelehnt, ein altes Flügelhorn aus Kupfer. Es war ungeheuer lang und schwer und glich fast einer Säule, die man an den Mund setzen sollte, um darauf zu blasen. Es stand dort verbeult und zerschrammt, innen und außen voller Staub und Spinngewebe und von einem kaum sichtbaren Pergamentstreifen umschlungen, den altertümliche Buchstaben bedeckten. Es mochten wohl tausend Jahre vergangen sein, seit jemand versucht hatte, einen Ton daraus hervorzulocken.
Als aber der kleine Knabe das riesige Horn erblickte, blieb er verwundert stehen und fragte: »Was ist das?«
»Das ist das große Horn, das die Stimme des Weltenfürsten genannt wird,« antwortete die Mutter. »Mit diesem Horn rief Moses die in der Wüste zerstreuten Kinder Israel zusammen. Nach seiner Zeit hat niemand mehr vermocht, ihm einen einzigen Ton zu entlocken. Aber er, der dies vermag, wird einst kommen und alle Völker der Erde unter seiner Herrschaft vereinigen.«
Sie lächelte bei diesen Worten, denn sie hielt die Weissagung für ein altes Märchen. Aber der kleine Knabe blieb vor dem großen Horn stehen, bis sie ihn wegrief. Er wäre gern noch dageblieben, um es recht lange und gründlich zu betrachten, denn gerade das Horn gefiel ihm am besten von allem, was er bisher in dem Tempel gesehen hatte.
Sie waren noch nicht lange gegangen, als sie in einen großen, weiten Tempelhof kamen. Hier lag im Felsengrunde eine tiefe, breite Schlucht, die noch aus der Urzeit stammte. König Salomo hatte die Untiefe nicht ausfüllen lassen wollen, als er den Tempel auf diesem Felsen erbaute. Er hatte keine Brücke darüber schlagen lassen, kein Geländer vor der abschüssigen, jähen Tiefe errichtet. Statt dessen hatte er eine scharfgeschliffene Stahlklinge, die mehrere Ellen lang war, mit der Schneide nach oben über den Abgrund spannen lassen. Und nun, nach einer Unendlichkeit von Jahren und Wechselfällen, lag die Klinge noch immer über der tiefen Schlucht. Aber sie war nun beinahe verrostet und nicht mehr sicher an ihren Endpunkten befestigt, so daß sie schwankte und schaukelte, sobald jemand mit schwerem Schritt über den Tempelhof ging. Als die Mutter den Knaben auf einem Umweg an dem Abgrund vorbeiführte, fragte er sie: »Was für eine Brücke ist das?«
»Die ist von König Salomo angelegt worden,« antwortete die Mutter, »und wir nennen sie die Paradiesbrücke. Wenn Du auf der schwankenden Brücke, deren Scheide dünner ist als ein Sonnenstrahl, den Abgrund überschreiten kannst, so bist Du sicher, ins Paradies zu kommen.« Und sie lächelte und eilte weiter, aber der Knabe blieb stehen und betrachtete die feine, schwankende Stahlklinge, bis die Mutter ihn rief.
Als er ihr folgte, seufzte er darüber, daß sie ihm die beiden wunderbaren Dinge nicht schon früher gezeigt hatte, wo er noch Zeit genug gehabt hätte, sie gut zu betrachten. Sie gingen nun, ohne sich aufzuhalten, bis sie zu dem mächtigen Eingangsportikus mit seinen fünffachen Säulenreihen gelangten. In einer Ecke standen dort zwei Säulen von schwarzem Marmor, die auf demselben Postament so nahe aneinander errichtet waren, daß sich kaum ein Strohhalm dazwischen durchschieben ließ. Sie waren hoch und majestätisch, mit reich geschmückten Kapitälen gekrönt, um die sich eine Reihe seltsam geformter Tierköpfe hinzog. Aber nicht ein Zoll breit dieser herrlichen Säulen war ohne Schrammen und Risse, sie waren beschädigt und abgenutzt wie nichts sonst im Tempel. Selbst der Steinboden war an dieser Stelle blankgescheuert und ein wenig vertieft durch die Reibung, die von den Tritten zahlloser Füße erzeugt worden war.
Und wieder hielt der Knabe seine Mutter zurück und fragte sie: »Was sind das für Säulen?«
»Das sind Säulen, die unser Erzvater Abraham aus dem fernen Chaldäa nach Palästina hergebracht hatte, und die er die Pforte der Gerechtigkeit nannte. Wer sich zwischen ihnen durchzudrängen vermag, der ist gerecht vor Gott und hat niemals eine Sünde begangen.«
Der Knabe blieb stehen und blickte mit großen