lachte. »Du siehst, wie der Steinboden um sie her von den vielen Menschen abgenutzt ist, die es versucht haben, sich durch den schmalen Spalt zu zwängen, aber Du kannst mir glauben, daß es keinem einzigen geglückt ist. Doch jetzt beeile Dich! Ich höre das Dröhnen der Kupfertore. Die dreißig Tempeldiener stemmen ihre Schultern dagegen, um sie in Bewegung zu setzen.«
Der kleine Knabe jedoch lag die ganze Nacht im Zelt wach auf seinem Lager und sah nichts anderes vor sich als die Pforte der Gerechtigkeit, die Paradiesbrücke und die Stimme des Weltenfürsten. Niemals zuvor hatte er von so wunderbaren Dingen gehört. Und er konnte sich der Gedanken daran nicht entschlagen. Am nächsten Morgen war es ebenso. Er vermochte an nichts anderes zu denken. Heute sollten sie die Heimreise antreten. Die Eltern hatten sehr viel damit zu tun, ihr Zelt abzubrechen, um es auf dem Kamel zu verladen, auch war noch mancherlei zu ordnen. Sie sollten nicht allein reisen, sondern in Gesellschaft vieler Verwandten und Nachbarn, und da so viele Leute mit dabei waren, ging ihnen das Einpacken sehr langsam von der Hand.
Der kleine Knabe half nicht bei der Arbeit, sondern saß ganz still in all dem Wirrwarr und Jagen und dachte an die drei wunderbaren Dinge.
Plötzlich fiel ihm ein, daß er noch genügend Zeit hätte, um in den Tempel zu gehen und die drei Wunderdinge noch einmal zu betrachten. Es war noch sehr viel einzupacken. Er konnte vor dem Aufbruch recht gut zurück sein. Schnell eilte er von dannen, ohne jemandem zu sagen, was er vorhatte. Er glaubte, es sei nicht notwendig. Er würde ja bald zurückkehren.
Auch dauerte es nicht lange, bis er den Tempel erreichte, und er trat in die Säulenhalle, in der die beiden schwarzen Marmorsäulen standen.
Sobald er sie erblickte, strahlten seine Augen vor Freude. Er setzte sich auf den Steinboden neben ihnen nieder und starrte zu ihnen empor. Als er daran dachte, daß jemand, der sich zwischen diesen zwei Säulen durchdrängen könnte, vor Gott gerecht sei und niemals eine Sünde begangen habe, vermeinte er, noch niemals etwas so Wundersames gesehen zu haben.
Er dachte daran, wie herrlich es sein müßte, sich zwischen diesen beiden Säulen hindurchzuzwängen, aber sie standen so dicht beieinander, daß es unmöglich war, es auch nur zu versuchen. Ohne daß er es wußte, saß er wohl eine Stunde lang unbeweglich vor den Säulen. Er aber glaubte, daß er sie nur einige Augenblicke betrachtet habe.
Nun begab es sich, daß dort in der Säulenhalle, wo der kleine Knabe saß, die Richter des Hohen Rates versammelt waren, um in den Streitsachen des Volkes zu richten. Die ganze Halle war voll von Menschen. Einige klagten über verschobene Grenzsteine, andere über den Raub von Schafen, die man aus der Herde weggeführt und mit falschen Zeichen versehen hatte, manche verklagten Schuldner, die nicht bezahlen wollten. Unter all den anderen befand sich auch ein reicher Mann in schleppenden Purpurgewändern. Er führte eine arme Witwe vor Gericht, die ihm einige Sekel Silber schuldig sein sollte. Die arme Witwe jammerte und sagte, der reiche Mann tue ihr unrecht. Sie habe ihm bereits einmal ihre Schuld bezahlt, nun wolle er sie nochmals dazu zwingen, aber das vermöge sie nicht. Sie sei so arm, daß sie, falls die Richter sie zur Zahlung verurteilten, gezwungen wäre, ihre Töchter dem reichen Manne als Sklavinnen zu überlassen.
Der Höchste im Rat wandte sich an den reichen Mann und sprach zu ihm: »Wagst Du einen Eid darauf zu leisten, daß dieses arme Weib Dir das Geld noch nicht bezahlt hat?«
Da antwortete der Reiche: »Herr, ich bin ein reicher Mann. Würde ich mir die Mühe machen, mein Geld von dieser armen Witwe zu verlangen, wenn ich nicht das Recht dazu hätte? Ich schwöre es Dir, so wahr und gewiß niemals jemand durch die Pforte der Gerechtigkeit schreiten wird, so gewißlich ist diese Frau mir die Summe schuldig, die ich verlange.«
Als die Richter diesen Eid vernommen hatten, glaubten sie seiner Rede und verurteilten die arme Witwe dazu, ihm ihre Töchter als Sklavinnen zu übergeben. Aber der kleine Knabe saß dicht daneben und hatte alles gehört. Er sagte sich: »Wie gut wäre es doch, wenn jemand durch die Pforte der Gerechtigkeit gelangen könnte! Dieser reiche Mann hat gewiß nicht die Wahrheit geredet. Wie schrecklich ist es für die alte Frau, ihre Töchter zu Sklavinnen hergeben zu müssen.« Er sprang auf das Piedestal, auf dem sich die beiden Säulen erhoben, und blickte durch den zwischen ihnen befindlichen Spalt.
»Ach, daß es doch nicht so unmöglich wäre!« seufzte er. Dies arme Weib dauerte ihn so sehr. Er dachte jetzt gar nicht daran, daß jeder, der sich durch diese Pforte zu zwängen vermochte, gerecht und sündenlos wäre. Nur um des armen Weibes willen wünschte er es zu vollbringen. Er stemmte seine Schulter zwischen die Vertiefung, als wolle er sich einen Weg bahnen.
In diesem Augenblick schauten alle dort anwesenden Menschen nach der Pforte der Gerechtigkeit hin. Denn es dröhnte in dem Gewölbe, und es sang in den alten Säulen, die sich auseinander schoben, eine zur rechten und eine zur linken Seite, und sie ließen gerade so viel Raum frei, daß der schlanke Körper des Knaben zwischen ihnen hindurchgleiten konnte.
Das erregte die höchste Verwunderung und großes Aufsehen. Im ersten Augenblick waren alle sprachlos. Die Leute starrten nur beständig den kleinen Knaben an, der ein so großes Wunder vollbracht hatte. Der Aelteste unter den Richtern faßte sich zuerst. Er befahl, den reichen Kaufmann zu ergreifen und vor den Hohen Rat zu führen. Und er verurteilte ihn, seine ganze Habe der armen Witwe zu übergeben, weil er in Gottes Tempel einen falschen Eid geschworen hatte.
Da dies abgetan war, fragte der Richter nach dem Knaben, der sich durch die Pforte der Gerechtigkeit gedrängt hatte, aber als die Menschen nach ihm Umschau hielten, da war er verschwunden. Denn in demselben Augenblick, da die Säulen auseinanderglitten, war er wie aus einem Traum erwacht und hatte sich seiner Eltern und der Heimkehr erinnert. »Jetzt muß ich mich aber beeilen, damit die Eltern nicht auf mich warten müssen,« sagte er sich. Er wußte aber gar nicht, daß er eine ganze Stunde vor der Pforte der Gerechtigkeit gesessen hatte, sondern wähnte, dort nur ein paar Minuten verweilt zu haben, und nun meinte er, daß er wohl auch noch Zeit hätte, einen Blick auf die Paradiesbrücke zu werfen, ehe er den Tempel verließe.
Und mit leichten Schritten glitt er durch die Volksmenge und gelangte zur Paradiesbrücke, die in einem ganz anderen Teil des großen Tempels lag.
Als er aber die scharfe Stahlklinge sah, die den Abgrund überbrückte, und daran dachte, daß ein Mensch, der über diese Brücke wandern könnte, sicher sei, ins Paradies zu gelangen, da meinte er, daß dies doch das allermerkwürdigste sei, was er jemals gesehen hätte, und er setzte sich am Rande des Abgrundes nieder, um die Stahlklinge zu betrachten.
Er dachte daran, wie herrlich es sein müßte, ins Paradies zu gelangen, und wie gern er diese Brücke überschreiten würde. Aber gleichzeitig erkannte er, daß es ganz unmöglich sei, dies auch nur zu versuchen.
Zwei Stunden lang grübelte und sann er in dieser Weise, wußte aber nichts davon, daß so viel Zeit verflossen war. Er dachte nur unablässig an das Paradies.
Auf dem Hof, in dem sich der tiefe Abgrund befand, war auch ein großer Opferaltar errichtet, um den weißgekleidete Priester schritten, die das Altarfeuer hüteten und Opfergaben entgegennahmen. Es standen auch viele opfernde Menschen dort und eine große Menge solcher, die dem Gottesdienst nur zuschauten. Nun kam ein armer, alter Mann des Weges daher. Er trug ein sehr kleines, mageres Lamm, das überdies noch von einem Hunde gebissen worden war, so daß es eine klaffende Wunde hatte.
Der Mann ging mit dem Lamm hin zu den Priestern und bat, es opfern zu dürfen, sie aber versagten ihm die Bitte. Eine so armselige Gabe dürfe er dem Herrn nicht darbringen, sagten sie ihm. Der Alte flehte, sie möchten doch um der Barmherzigkeit willen das Lamm annehmen, denn sein Sohn liege todkrank danieder, und er besitze nichts anderes, was er Gott für seine Genesung opfern könnte. Er sprach: »Ihr müsset es mich opfern lassen, denn sonst dringt mein Gebet nicht zu Gottes Angesicht, und mein Sohn wird sterben.«
»Du darfst nicht glauben, daß ich kein Mitleid für Dich hege,« sprach der Priester, »aber das Gesetz verbietet uns, ein verletztes Tier zu opfern. Deine Bitte zu erfüllen ist so unmöglich, wie es unmöglich ist, die Paradiesbrücke zu überschreiten.«
Der kleine Knabe saß nicht weit entfernt, so daß er alles gehört hatte. Er dachte sogleich daran, wie schade es wäre, daß niemand die Brücke überschreiten