Selma Lagerlöf

Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke


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traurig den Tempelhof, und der Knabe stand auf, ging zu der schwankenden Brücke und betrat sie mit seinem Fuß.

      Er dachte ganz und gar nicht daran, daß er sie überschreiten wollte, um des Paradieses sicher zu sein. Seine Gedanken galten einzig und allein dem Armen, dem er so gern helfen wollte. Aber er zog den Fuß zurück und flüsterte: »Es ist unmöglich. Sie ist viel zu alt und verrostet, sie würde mich nicht einmal tragen.«

      Aber noch einmal eilten seine Gedanken zu dem Armen, dessen Sohn im Sterben lag. Und wieder setzte er den Fuß auf die Schwertklinge.

      Da fühlte er, daß sie aufhörte zu schwanken und unter seinen Füßen breit und fest wurde.

      Und beim nächsten Schritte merkte er, daß die Luft rings umher ihn stützte. Sie trug ihn, als wäre er ein Vogel und hätte Schwingen.

      Aber als der Knabe über die Klinge schritt, drang ein lieblicher Ton bebend daraus hervor, und einer von denen, die auf dem Tempelhof standen, wandte sich um, als er den Ton vernahm. Er stieß einen lauten Schrei aus, so daß sich auch alle die anderen umwandten, und nun gewahrten sie den kleinen Knaben, der auf der Stahlklinge vorwärts schritt.

      Und große Bestürzung und Verwunderung bemächtigten sich aller, die dort standen. Die ersten, die wieder zur Besinnung kamen, waren die Priester, Sie sandten sogleich einen Boten nach dem Armen aus, und als er kam, sprachen sie zu ihm: »Gott hat ein Wunder getan, um uns zu zeigen, daß ihm Deine Gabe wohlgefällig ist. Gib Dein Lamm her, wir werden es opfern!«

      Als dies vollbracht war, fragten sie nach dem kleinen Knaben, der über den Abgrund geschritten war. Aber da sie sich nach ihm umschauten, konnten sie ihn nicht finden. Denn sobald der Knabe über den Abgrund geschritten war, kam ihm der Gedanke an die Heimkehr und an die Eltern. Er war sich dessen nicht bewußt, daß der Morgen und der Vormittag bereits vergangen waren, sondern er sagte sich: »Ich muß mich nun tüchtig beeilen, damit sie nicht auf mich warten müssen. Ich will nur noch schnell einen Blick auf das Horn des Weltenfürsten werfen.«

      Und er glitt durch die Menge und eilte mit leichten Schritten nach dem dämmerigen Säulengang, wo das kupferne Horn an der Wand lehnte. Als er es erblickte und daran dachte, daß ein Mensch, der ihm einen Ton entlocken könnte, alle Völker der Erde unter seiner Herrschaft vereinigen würde, meinte er noch niemals etwas so Merkwürdiges gesehen zu haben, und setzte sich daneben nieder und betrachtete es aufmerksam.

      Er dachte daran, wie erhaben es sein müßte, alle Menschen auf der Erde an sich zu ziehen, und wie herzlich er wünschte, auf dem alten Horn blasen zu können. Aber er begriff, daß dies unmöglich sei, und wagte nicht einmal den Versuch.

      Auf diese Weise verbrachte er dort mehrere Stunden, ohne zu wissen, wie die Zeit verging. Er dachte einzig und allein daran, was man dabei empfinden würde, wenn man alle Menschen auf Erden unter seiner Herrschaft vereinigte.

      Aber in diesem kühlen Säulengang saß ein heiliger Mann und belehrte seine Schüler. Und er wandte sich eben an einen der Jünglinge, die zu seinen Füßen saßen, und sagte ihm, er sei ein Betrüger. Sein Geist habe ihm verraten, daß der Jüngling ein Fremdling und kein Israelit sei. Und nun fragte der Heilige ihn, weshalb er sich unter einem falschen Namen unter seinen Schülern eingeschlichen hätte.

      Da erhob sich der fremde Jüngling und antwortete, er sei durch öde Wüsten gewandert und habe weite Meere durchschifft, um die wahre Weisheit und die Lehre vom einzigen Gott verkünden zu hören. Und er sprach zum Heiligen: »Meine Seele verschmachtete vor Sehnsucht. Aber ich wußte, daß Du mich nicht unterweisen würdest, wenn ich mich nicht als Israelit bekannt hätte. Und ich belog Dich, auf daß meine Sehnsucht gestillt würde. Ich flehe Dich an, mich bei Dir bleiben zu lassen.«

      Aber der Heilige erhob sich, streckte die Arme gen Himmel und rief: »Du darfst so wenig bei mir bleiben, wie jemand aufstehen wird, um auf dem großen Kupferhorn zu blasen, das wir die Stimme des Weltenfürsten nennen. Es ist Dir nicht einmal erlaubt, diese Stelle des Tempels zu betreten, weil Du ein Heide bist. Hebe Dich weg von hier, sonst werden meine anderen Schüler sich auf Dich werfen und Dich in Stücke reißen, denn Deine Gegenwart schändet den Tempel.«

      Aber der Jüngling blieb stehen und sprach: »Ich werde nirgendwo anders hingehen, wo meine Seele keine Nahrung fände. Lieber will ich hier zu Deinen Füßen sterben.«

      Kaum waren diese Worte gesprochen, als die Schüler des Heiligen sich erhoben, um den Fremden zu verjagen. Und als er sich wehren wollte, warfen sie ihn nieder und wollten ihn töten.

      Der Knabe aber saß ganz nahe, so daß er alles gehört und gesehen hatte, und er sagte sich: »Das ist eine große Hartherzigkeit. Ach, könnte ich doch das Kupferhorn blasen, so wäre ihm sicher geholfen!«

      Er erhob sich und legte seine kleine Hand auf das Horn. In diesem Augenblick wünschte er nicht mehr, es deshalb zu seinen Lippen emporheben zu können, weil der, der es vermochte, ein großer Herrscher werden würde, sondern nur, weil er hoffte, jemandem helfen zu können, dessen Leben in Gefahr war.

      Und mit seinen kleinen Händen umfaßte er das Kupferhorn und versuchte es zu heben. Da fühlte er, daß das ungeheure Horn sich von selber bis zu seinen Lippen erhob. Und als er nur aufatmete, drang ein starker klingender Ton aus dem Horn, der den ganzen weiten Umkreis des Tempels durchhallte.

      Da wandten sich aller Augen, und sie sahen, daß es ein kleiner Knabe war, der mit dem Horn an den Lippen dastand und ihm Töne entlockte, die alle Gewölbe und Säulen erbeben machten.

      Und alsogleich senkten sich alle jene Hände, die schon erhoben waren, um den fremden Jüngling zu erschlagen, und der heilige Lehrer sprach zu ihm:

      »Komm und setze Dich hier zu meinen Füßen nieder, wie Du früher saßest! Gott hat ein Wunder getan, um mir ein Zeichen zu geben, daß es ihm wohlgefiele, Dich in die Glaubenslehren zu seiner Anbetung einzuweihen.«

      Als der Tag sich seinem Ende zuneigte, eilten ein Mann und ein Weib nach Jerusalem. Sie sahen erschrocken und beunruhigt aus und riefen jedem Vorübergehenden zu: »Wir haben unseren Sohn verloren. Wir glaubten, er sei mit unseren Verwandten oder Nachbarn mitgegangen, aber keiner von ihnen hat ihn gesehen. Ist jemand von Euch unterwegs einem einzelnen Kinde begegnet?«

      Und alle, die von Jerusalem kamen, antworteten ihnen: »Euren Sohn haben wir nirgend gesehen, aber im Tempel haben wir das schönste Kind der Welt gesehen. Es war wie ein Engel des Himmels anzuschauen und hat die Pforte der Gerechtigkeit durchschritten.«

      Sie hätten das Alles gern ganz genau erzählt, die Eltern hatten jedoch keine Zeit, ihnen zuzuhören.

      Als sie wieder eine Strecke gegangen waren, begegneten sie anderen Menschen und fragten sie nach ihrem Sohne. Doch die von Jerusalem kamen, wollten nur von dem schönsten Kinde berichten, das aussehe, als sei es vom Himmel herabgestiegen, und die Paradiesbrücke überschritten hatte.

      Sie hätten noch bis zum späten Abend davon erzählt, doch der Mann und das Weib hatten keine Zeit zuzuhören, sondern eilten zur Stadt.

      Sie rannten Straße auf, Straße ab, ohne das Kind zu finden. Endlich standen sie vor dem Tempel.

      Im Vorbeischreiten sagte die Frau: »Da wir nun doch einmal hier sind, laß uns auch hineingehen, um zu sehen, was es mit dem Kinde für eine Bewandtnis hat, von dem sie sagen, es sei vom Himmel herabgestiegen!« Sie gingen hinein und fragten, wo sie das Kind finden könnten.

      »Geht dort geradeaus bis zu der Halle, wo die heiligen Lehrer mit ihren Schülern sitzen. Dort ist das Kind. Die alten Gelehrten haben es in ihre Mitte gesetzt, sie befragen es, und es befragt sie, und alle verwundern sich höchlichst über den Knaben. Alles Volk steht draußen auf dem Tempelhof, um einen Schimmer von ihm wahrzunehmen, der des Weltenfürsten Stimme zu seinen Lippen emporgehoben hat.«

      Der Mann und das Weib bahnten sich den Weg durch die Volksmenge, und sie erkannten, daß das Kind inmitten der weisen Lehrer ihr eigener Sohn war. Aber sobald die Frau das Kind erkannt hatte, begann sie zu weinen.

      Und der Knabe, der inmitten der weisen Männer saß, hörte jemand weinen und erkannte, daß es seine Mutter war. Da stand er auf und ging zu seiner Mutter, und die Eltern