Selma Lagerlöf

Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke


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sie: »Warum weinst Du? Ich kam ja zu Dir, sobald ich Deine Stimme vernahm.«

      »Sollte ich nicht weinen?« fragte die Mutter. »Ich glaubte, Du wärest für mich verloren.«

      Sie verließen die Stadt, und das Dunkel brach herein, und die Mutter weinte noch immer.

      »Warum weinst Du?« fragte das Kind. »Ich wußte nichts davon, daß der Tag vergangen war. Ich glaubte, es sei noch frühmorgens, und ich kam zu Dir, sobald ich Deine Stimme vernahm.«

      »Muß ich nicht weinen?« sprach die Mutter. »Ich habe Dich den ganzen Tag gesucht. Ich glaubte, Du wärest für mich verloren.«

      Sie wanderten die ganze Nacht durch, und die Mutter weinte unablässig.

      Als der Tag aufdämmerte, fragte das Kind: »Warum weinst Du? Ich habe nicht nach eigenem Ruhme begehrt, aber Gott hat mich diese Wunder tun lassen, weil er diesen drei armen Menschen beistehen wollte. Und sobald ich Deine Stimme vernahm, bin ich zu Dir zurückgekehrt.«

      »Mein Sohn,« antwortete die Mutter, »ich weine, weil Du dennoch für mich verloren bist. Du wirst mir niemals mehr angehören können. Von nun an wird Gerechtigkeit Deines Lebens Ziel sein und das Paradies Deine Sehnsucht, und Deine Liebe wird alle die armen Menschen umfangen, die die Erde erfüllen.«

      In einem der letzten Jahre der Regierung des Kaisers Tiberius hatte sich ein armer Winzer mit seinem Weibe in einer einsamen Hütte hoch oben im Sabinergebirge niedergelassen. Sie waren Fremdlinge und lebten in der größten Einsamkeit, ohne jemals von irgendeinem Menschen aufgesucht zu werden. Aber eines Morgens sah dieser Arbeiter, als er seine Tür öffnete, zu seiner großen Verwunderung ein Weib auf der Schwelle kauern. Sie trug einen einfachen, grauen Mantel und sah aus, als wäre sie recht arm. Als sie sich jedoch erhob und auf ihn zutrat, erschien sie dessenungeachtet so ehrfurchtgebietend, daß er daran denken mußte, was die alten Sagen von den Göttinnen berichten, die in der Gestalt von greisenhaften Frauen den Menschen nahen.

      »Freund,« sprach die Greisin zu dem Winzer, »Du mußt Dich nicht darüber verwundern, daß ich nachts auf Deiner Schwelle geschlafen habe. Meine Eltern haben einst diese Hütte bewohnt, und ich wurde hier vor fast neunzig Jahren geboren. Ich erwartete, sie leer und verlassen zu finden. Ich wußte nichts davon, daß Menschen sich darin niedergelassen hatten.«

      »Ich wundere mich gar nicht, daß Du erwartet hast, die Hütte leer und verlassen zu finden, die so hoch oben inmitten des öden Gebirges liegt,« entgegnete der Winzer. »Aber ich und mein Weib stammen aus einem fernen Lande, und wir armen Fremdlinge fanden keine bessere Wohnstätte. Und nach der langen Wanderung, die Du in Deinem hohen Alter unternommen hast, wirst Du müde und hungrig sein. Da ist es Dir sicher willkommener, daß diese Hütte von Menschen anstatt von Wölfen aus dem Sabinergebirge bewohnt ist. Du findest drinnen nun doch ein Bett, auf dem Du ruhen kannst, und wenn Du vorlieb nehmen willst, soll für Dich eine Schale Ziegenmilch und ein Stück Brot bereit sein.«

      Die Greisin lächelte ein wenig, aber dieses Lächeln war so flüchtig, daß es nicht den Ausdruck tiefen Kummers zu verdrängen vermochte, der auf ihrem Antlitz ruhte. »Ich habe meine ganze Jugend hier oben auf den Bergen verlebt,« antwortete sie. »Und ich habe es bis heute noch nicht verlernt, einen Wolf aus seiner Höhle zu verjagen.«

      Und sie sah wirklich so stark und kräftig aus, daß der Arbeitsmann gar nicht bezweifelte, daß sie trotz ihres hohen Alters noch Kraft genug habe, um mit den wilden Tieren des Waldes zu kämpfen.

      Er wiederholte indessen seine Aufforderung, und die Greisin trat in die Hütte. Sie setzte sich mit den armen Leuten an den Tisch und teilte ohne Zögern ihr bescheidenes Mahl. Aber obwohl sie sehr befriedigt zu sein schien, das grobe, in der Milch aufgeweichte Brot zu essen, fragten sich die beiden Eheleute: »Woher mag die greise Pilgerin kommen? Sie hat sicherlich häufiger Fasanen auf silbernem Gerät gegessen, als Ziegenmilch aus irdenen Krügen getrunken.«

      Zuweilen blickte sie beim Essen auf und sah sich prüfend um, als wolle sie sich in der Hütte zurechtfinden. Die ärmliche Behausung mit ihren nackten Lehmwänden und dem festgestampften Lehmboden war wohl kaum verändert. Sie zeigte sogar ihren Wirtsleuten noch einige Spuren von Hunden und Hirschen, die ihr Vater einst zur Freude seiner kleinen Kinder dorthin gezeichnet hatte. Und hoch oben auf einem Wandbrett glaubte sie die Scherben eines Tonkruges zu erkennen, in den sie selber einst die Milch zu gießen pflegte.

      Aber die Eheleute sagten sich: »Es mag sein, daß sie in dieser Hütte zur Welt kam, aber sie muß im Leben noch sehr viel anderes ausgerichtet haben, als Ziegen zu melken und Käse und Butter zu bereiten.«

      Sie merkten auch, daß sie mit ihren Gedanken oft weit weg war, und daß sie schwer und sorgenvoll seufzte, wenn sie wieder zu sich kam. Schließlich stand sie von der Mahlzeit auf, dankte freundlich für die ihr gewährte Gastfreundschaft und schritt zur Tür hin.

      Aber da erschien sie dem Winzer so verlassen und arm und kläglich, daß er ausrief: »Wenn ich mich nicht irre, so war es, als Du nachts hier mühsam heraufklommst, nicht Deine Absicht, die Hütte so bald wieder zu verlassen. Bist Du wirklich so arm, wie Du aussiehst, so wirst Du gewiß den Wunsch gehabt haben, den Rest Deiner Tage hier zu verleben. Aber nun willst Du von dannen gehen, weil ich und mein Weib die Hütte mit Beschlag belegt haben.«

      Die Greisin leugnete nicht, daß er richtig geraten hatte. »Die Hütte, die so lange Jahre verlassen dastand, gehört ebenso gut Dir wie mir,« entgegnete sie. »Mir steht kein Recht zu, Dich daraus zu vertreiben.«

      »Es ist gleichwohl die Hütte Deiner Eltern, und so hast Du sicherlich mehr Anspruch darauf als ich. Ueberdies sind wir jung, und Du bist alt. Darum sollst Du hierbleiben, und wir werden von dannen ziehen.«

      Als die Greisin diese Worte vernahm, war sie höchlichst verwundert. Sie wandte sich auf der Schwelle um und starrte den Mann an, als hätte sie nicht begriffen, was er mit seinen Worten meinte.

      Doch nun mischte sich auch das junge Weib in das Gespräch.

      »Wenn mir ein Rat erlaubt ist,« sagte sie zu ihrem Manne, »so möchte ich Dich bitten, die würdige Greisin zu fragen, ob sie uns nicht als ihre Kinder betrachten will, die bei ihr bleiben und sie pflegen dürfen. Was würden wir ihr dadurch helfen, daß wir ihr die armselige Hütte schenkten und sie dann verließen? Wie schrecklich wäre es für sie, hier in dieser Einöde allein zu hausen. Und wovon sollte sie denn leben? Es wäre ebenso, als ließen wir sie Hungers sterben.«

      Da schritt die Greisin auf die jungen Eheleute zu und betrachtete sie aufmerksam. »Warum redet Ihr so zu mir?« fragte sie. »Warum erweiset Ihr mir Barmherzigkeit? Ihr seid ja Fremdlinge in diesem Lande.«

      Und die junge Frau antwortete ihr: »Es geschieht darum, weil wir selber einmal der großen Barmherzigkeit teilhaftig geworden sind.«

      Und also geschah es, daß die Greisin in der Hütte des Winzers wohnen blieb, und sie faßte eine große Freundschaft für die jungen Eheleute. Aber dessenungeachtet sagte sie ihnen niemals, von wannen sie gekommen war und wer sie sei, und sie begriffen, daß die Fremde eine Frage danach nicht gut aufgenommen hätte.

      Eines Abends jedoch, als die Arbeit getan war und sie alle drei, ihr Nachtmahl verzehrend, auf der großen, flachen Felsplatte saßen, die als Schwelle zur Hüttentür führte, erblickten sie einen alten Mann, der den Bergpfad erstieg.

      Es war ein großer, kräftig gebauter Mann mit den breiten Schultern eines Ringkämpfers. Sein Gesicht zeigte einen finsteren, unfreundlichen Ausdruck. Die Stirn sprang über die tiefliegenden Augen vor, und die Linien um den Mund drückten Bitterkeit und Verachtung aus. Er näherte sich in straffer Haltung und mit schnellen Bewegungen.

      Der Mann war sehr einfach gekleidet, und der Winzer dachte bei seinem Anblick: Das ist ein alter Legionär, der seinen Abschied bekommen hat und nun in seinen Heimatsort zurückwandert.

      Als der Fremdling bei den Essenden angelangt war, blieb er wie zweifelnd stehen. Der Arbeiter, der wußte, daß dieser Weg ein kleines Stück oberhalb