Aber am seltsamsten berührte sie doch dieses gänzliche Fehlen von Menschen. Wenn es auch allen Fremdlingen verboten war, sich auf dieser Insel zu zeigen, so mußten doch wohl die endlosen Scharen von Kriegsknechten und Sklaven, von Tänzerinnen und Musikanten, von Köchen und Tafeldeckern, von Palastwachen und Gartenarbeitern, sie alle, die zum kaiserlichen Haushalt gehörten, da sein.
Erst als Faustina die oberste Terrasse erreichte, bemerkte sie ein paar alte Sklaven, die auf den Treppenstufen vor der Villa saßen. Als sie sich ihnen näherte, standen sie auf und verneigten sich tief vor ihr.
»Sei gegrüßt, Faustina!« sagte der eine. »Gott sendet Dich, unser Unheil zu mildern.«
»Was geht hier vor, Milo?« fragte Faustina. »Warum ist es hier so öde und leer? Man sagte mir doch, daß Tiberius noch immer auf Capri wohne.«
»Der Kaiser hat alle seine Sklaven weggejagt, weil er uns beargwohnt, einer habe ihm vergifteten Wein zu trinken gegeben, und dadurch sei die Krankheit entstanden. Er hätte auch mich und Tito weggejagt, wenn wir uns nicht geweigert hätten, ihm zu gehorchen. Du weißt doch, daß wir unser ganzes Leben lang dem Kaiser und seiner Mutter gedient haben.«
»Ich frage nicht nur nach seinen Sklaven. Wo sind die Senatoren und die Feldherren? Wo sind des Kaisers Vertraute und alle die Speichellecker?«
»Tiberius will sich nicht mehr vor Fremden zeigen,« sagte der Sklave. »Der Senator Lucius und Macro, der Anführer der Leibwache, kommen jeden Tag her, um seine Befehle entgegenzunehmen. Sonst darf niemand in seine Nähe kommen.«
Faustina hatte die Treppe erstiegen, um in die Villa zu gehn. Der Sklave schritt vor ihr her, und im Weitergehen fragte sie ihn:
»Was sagen die Aerzte von der Krankheit des Tiberius?«
»Keiner von ihnen versteht diese Krankheit zu behandeln. Sie wissen nicht einmal, ob das Uebel schnell oder langsam tötet. Aber ich kann Dir nur sagen, Faustina, daß Tiberius sicher sterben muß, wenn er sich, wie bisher, weigert, Nahrung zu sich zu nehmen, aus Angst vor Vergiftung. Und ich weiß auch, daß ein kranker Mensch es nicht aushalten kann, Tag und Nacht zu wachen, wie der Kaiser tut, weil er fürchtet, im Schlaf ermordet zu werden. Wenn er Dir vertrauen wollte, wie in früheren Tagen, so könnte es Dir vielleicht gelingen, ihn zum Essen und zum Schlafen zu bestimmen. Dadurch könntest Du sein Leben um viele Tage verlängern.«
Der Sklave geleitete Faustina durch viele Gänge und Höfe bis zu einer Terrasse, wo Tiberius sich aufzuhalten pflegte, um die Aussicht über die schönen Meeresbuchten und den stolzen Vesuv zu genießen.
Als Faustina die Terrasse betrat, erblickte sie ein grausiges Geschöpf mit geschwollenem Angesicht und tierischen Zügen. Seine Hände und Füße waren mit weißen Binden umwickelt, aber aus den Binden streckten sich halb abgefaulte Finger und Zehen heraus. Und die Kleidung dieses Menschen war staubig und besudelt. Man sah, daß er unfähig war, aufrecht zu gehen, und daß er nur auf der Terrasse herumkriechen konnte. Er lag mit geschlossenen Augen am fernsten Ende der Balustrade und bewegte sich nicht einmal, als der Sklave und Faustina herankamen.
Aber Faustina flüsterte dem voranschreitenden Sklaven zu: »Was bedeutet das, Milo, wie kommt ein solcher Mensch hier auf die Kaiserterrasse? Beeile Dich und schaffe ihn fort!« Doch kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als sie auch schon gewahrte, daß der Sklave sich vor dem am Boden liegenden, elenden Menschen tief zur Erde neigte.
»Cäsar Tiberius,« sprach er, »endlich habe ich Dir eine frohe Botschaft zu bringen.« Zugleich wandte sich der Sklave nach Faustina um, fuhr aber bestürzt zurück und vermochte kein Wort mehr zu reden.
Er erblickte nicht mehr die stolze Matrone, die so stark ausgesehen hatte, daß man vermuten konnte, ihr Alter würde dem einer Sibylle gleichkommen. In kraftloser Greisenhaftigkeit war sie zusammengesunken, und eine gebeugte, alte Frau mit trübem Blick und mit tastenden Händen sah der Sklave vor sich.
Zwar hatte man Faustina erzählt, daß der Kaiser schrecklich verändert sei, aber sie hatte doch keinen Moment aufgehört, sich ihn als den kräftigen Mann vorzustellen, der er noch gewesen war, als sie ihn zuletzt gesehen hatte. Auch hatte sie jemanden sagen hören, daß diese Krankheit langsam wirke, und daß sie eine Reihe von Jahren brauche, um einen Menschen zu entstellen. Hier jedoch war sie so reißend fortgeschritten, daß sie den Kaiser bereits nach wenigen Monaten unkenntlich gemacht hatte.
Faustina wankte auf den Kaiser zu, vermochte aber nicht zu sprechen, sondern blieb stumm und weinend neben ihm stehn.
»Bist Du nun gekommen, Faustina?« sagte er, ohne die Augen zu öffnen. »Hier liege ich und bilde mir ein, daß Du bei mir stehst und über mich weinst. Ich wage es nicht, aufzublicken, weil ich fürchte, es könnte ein Trug sein.«
Da setzte die Greisin sich zu ihm. Sie hob seinen Kopf und bettete ihn in ihren Schoß.
Aber Tiberius blieb ganz still liegen, ohne sie anzublicken. Ein köstliches Ruhegefühl umfing ihn, und im nächsten Augenblick versank er in tiefen Schlaf.
5
Einige Wochen später wanderte einer der kaiserlichen Sklaven der einsamen Hütte in den Sabinerbergen zu. Es war gegen Abend, und der Winzer stand mit seinem Weibe in der Tür, um die Sonne im fernen Westen sinken zu sehn. Der Sklave bog vom Wege ab und trat grüßend auf sie zu. Dann zog er einen mächtigen Beutel aus seinem Rocke und legte ihn in des Mannes Hand.
»Dies sendet Dir Faustina, die Greisin, gegen die Ihr barmherzig gewesen seid,« sprach der Sklave. »Sie bittet Dich, Du mögest Dir für dieses Geld einen eigenen Weinberg kaufen und eine Wohnstätte bauen, die nicht so hoch oben in den Lüften schwebt wie des Adlers Horst.«
»Also die greise Faustina lebt wirklich noch?« rief der Mann aus. »Wir haben in Klüften und Sümpfen nach ihr geforscht. Als sie nicht zu uns zurückkehrte, glaubte ich schon, sie hätte in diesen elenden Bergen ihren Tod gefunden.«
»Erinnerst Du Dich nicht,« fiel sein Weib ein, »daß ich an ihren Tod nicht glauben wollte? Habe ich Dir nicht gesagt, sie sei zum Kaiser zurückgekehrt?«
»Ja,« bestätigte der Mann, »das hast Du gesagt, und ich freue mich, daß Du recht hattest, nicht nur weil Faustina so reich genug wurde, um uns in unserer Armut beizustehen, sondern auch um des armen Kaisers willen.«
Der Sklave wollte sich nun sogleich verabschieden, um vor Einbruch der dunklen Nacht bewohnte Gegenden zu erreichen, aber die beiden Eheleute wollten es nicht zugeben. »Du mußt noch bis morgen bei uns bleiben,« baten sie. »Wir können Dich nicht heimkehren lassen, ehe Du uns alles berichtet hast, was Faustina seither erlebt hat. Warum ist sie zum Kaiser zurückgekehrt? Wie war die Begegnung? Sind sie nun glücklich, wieder vereint zu sein?«
Der Sklave gab ihren Bitten nach. Er folgte ihnen in die Hütte und erzählte beim Nachtmahl von des Kaisers Krankheit und von der Rückkehr Faustinas.
Als der Sklave seine Erzählung beendet hatte, sah er, daß die Eheleute unbeweglich, wie betäubt vor Staunen dasaßen. Ihre Blicke waren zu Boden gesenkt, als wollten sie die Erregung, die sie überwältigt hatte, nicht verraten.
Schließlich blickte der Mann auf und sprach zu seinem Weibe: »Glaubst Du nicht, daß dies göttliche Fügung ist?«
»Ja,« sprach die junge Frau, »der Herr hat uns gewiß über das Meer nach dieser Hütte gesandt. Gewiß lag dies in seiner Absicht, da er die alte Frau hier an unsere Tür führte.«
Als die Frau so gesprochen hatte, wandte sich der Winzer an den Sklaven.
»Freund!« sprach er zu ihm. »Du sollst Faustina eine Botschaft von mir überbringen. Wiederhole sie ihr Wort für Wort! Dein Freund, der Winzer aus den Sabinerbergen; entbietet Dir seinen Gruß. Du hast die junge Frau gesehen, die mein Weib ist. Erschien sie Dir nicht lieblich in ihrer Schönheit und blühend in Gesundheit? Und dennoch litt dieses junge Weib einst an derselben Krankheit, die jetzo Tiberius ergriffen hat.«
Der Sklave schüttelte verwundert den Kopf, aber der Winzer sprach mit immer wachsendem Nachdruck.
»Wenn