Selma Lagerlöf

Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke


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Es war um die Frühlingszeit, und die Ebene von Saron, durch die sie einen vollen Tag ritten, war ein einziger leuchtender Blumenteppich. Auch am zweiten Tage, als sie die Berge von Judäa erreicht hatten, fehlte es an Blumen nicht. Alle die vielgestaltigen Berge, zwischen denen der Weg sich hinschlängelte, waren mit Obstbäumen bepflanzt, die in reichster Blüte prangten. Und wenn die Reisenden sich an den weißrosigen Blüten der Aprikosen- und Pfirsichbäume satt gesehen hatten, konnten sie ihre Augen auf dem jungen Weinlaub ruhen lassen, das sich zwischen den schwarzbraunen Rebenstämmen hervordrängte, und dessen Wachstum so schnell war, daß man glaubte, ihm mit den Blicken folgen zu können.

      Aber nicht allein die Blumen und das Frühlingsgrün machten diese Wanderung heiter. Am meisten trugen dazu alle die Menschenscharen bei, die sich an diesem Morgen auf dem Wege nach Jerusalem befanden. Von allen Nebenwegen und Stegen, von einsamen Höhen und aus den entlegensten Winkeln des Flachlandes kamen die Wanderer. Sobald sie auf der Landstraße waren, die nach Jerusalem führte, vereinigten sich die Getrennten zu großen Scharen und zogen unter frohem Jubel dahin. Ein alter Greis auf schaukelndem Kamel war von seinen Söhnen und Töchtern, seinen Schwiegertöchtern, Eidamen und Enkelkindern umgeben, die alle neben ihm hinschritten. Es war eine so große Familie, daß sie allein schon einem kleinen Heer gleichkam. Eine alte Mutter, die zum Gehen zu schwach war, wurde von ihren Söhnen auf den Armen getragen, und sie ließ es stolz geschehen, während die Menschenmenge ehrfurchtsvoll zur Seite wich.

      Es war ein Morgen, der auch den Traurigsten mit Freude erfüllen konnte. Der Himmel war nicht klar, sondern mit einer schwachen, weißgrauen Wolkenschicht überzogen, aber keiner der Weggenossen dachte auch nur im entferntesten daran, sich zu beklagen, daß der stechende Sonnenglanz dadurch gedämpft war. Unter diesem verschleierten Himmel strömten die Düfte der blühenden Bäume und des frischen Laubes nicht so schnell wie sonst in die Weite hinaus, sondern schwebten ruhig über Wegen und Feldern. Und der schöne Tag. der mit seiner matten Helligkeit und seiner Windstille an die Ruhe und den Frieden der Nacht gemahnte, schien allen den vorwärts strebenden Menschen etwas von seinem Wesen mitzuteilen, so daß sie zwar fröhlich, jedoch auch feierlich dahinzogen. Sie sangen mit gedämpfter Stimme uralte Hymnen oder spielten auf seltsamen, altertümlichen Instrumenten, aus denen Töne drangen, die dem Summen der Mücken oder dem Zirpen der Grillen ähnlich waren.

      Als die greise Faustina inmitten all dieser Menschen dahinritt, wurde sie von deren Eifer und Freude angesteckt. Sie trieb ihren Renner zu hurtiger Gangart, während sie zu einem jungen Römer, der neben ihr herritt, sprach: »Ich träumte heute Nacht von Tiberius. Er bat mich, diese Reise nicht aufzuschieben, sondern just heute nach Jerusalem zu ziehen. Es ist, als wollten die Götter mir eine Mahnung senden, es nicht zu verabsäumen, an diesem herrlichen Morgen dorthin zu eilen.«

      Gerade in diesem Augenblick hatten sie den Gipfel eines langgestreckten Bergrückens erreicht, und dort hielt sie unwillkürlich ihr Pferd an. Vor ihr lag ein weiter, tiefer Talkessel, von herrlichen Bergen umkränzt, und aus der dunklen, schattigen Tiefe des Tales erhob sich der gewaltige Felsen, der auf seinem Gipfel die Stadt Jerusalem trug.

      Aber die kleine Bergstadt, die mit ihren Mauern und Türmen gleich einem kronenartigen Geschmeide auf der flachen Felsenhöhe ruhte, war an jenem Tage tausendfach vergrößert. Alle Anhöhen um das Tal waren von bunten Zelten und Menschenscharen bedeckt.

      Faustina erkannte, daß die ganze Bevölkerung des Landes sich in Jerusalem versammelte, um irgendeinen hohen Feiertag zu begehen. Die entfernter Wohnenden waren schon angelangt und hatten ihre Zelte aufgeschlagen und eingerichtet, wogegen die in der Nähe der Stadt Wohnenden erst heranzogen. Von all den lichten Bergeshöhen sah man sie kommen, wie eine ununterbrochene Flut von weißen Gewändern, Gesängen und Festfreude.

      Die Greisin betrachtete eine Zeit die wogenden Menschenscharen und die langen Zeltreihen. Dann sprach sie zu dem jungen Römer, der neben ihr herritt:

      »Wahrlich, Sulpicius, das ganze Volk scheint nach Jerusalem gekommen zu sein.«

      »So ist es,« erwiderte der Römer, der von Tiberius zum Begleiter Faustinas ausersehen worden war, weil er mehrere Jahre in Judäa zugebracht hatte. »Sie feiern jetzt ihr großes Frühlingsfest, und zu diesem ziehen alle Menschen, ob alt, ob jung, nach Jerusalem.«

      Faustina dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Ich freue mich, daß wir gerade an dem Tage in diese Stadt gekommen sind, wo das Volk seinen Feiertag begeht. Es ist das beste Zeichen, daß die Götter unserem Vorhaben gnädig sind. Bist Du nicht auch der Meinung, daß er, den wir suchen, der Prophet aus Nazareth, höchstwahrscheinlich auch nach Jerusalem gekommen ist, um an diesem Fest teilzunehmen?«

      »Du hast recht, Faustina,« antwortete der Römer. »Er ist wahrscheinlich schon jetzt hier in Jerusalem. Das ist fürwahr eine göttliche Fügung. So kräftig und gesund Du auch bist, sollst Du Dich doch glücklich preisen, daß Du die lange und beschwerliche Wanderung nach Galiläa wohl unterlassen kannst.«

      Er ritt sogleich auf einige Wanderer zu, die eben vorbeizogen, und fragte sie, ob sie glaubten, daß der Prophet aus Nazareth sich in Jerusalem aufhalte.

      »Wir haben ihn alljährlich um diese Zeit dort gesehen,« antwortete einer der Wandernden: »Sicherlich ist er auch in diesem Jahr gekommen, denn er ist ein frommer und gerechter Mann.«

      Ein Weib streckte die Hand aus, wies auf einen östlich von der Stadt gelegenen Berg hin und sprach: »Siehst Du dort den mit Olivenbäumen bewachsenen Bergabhang? Dort pflegen die Galiläer ihre Zelte aufzuschlagen, und dort wirst Du die sicherste Auskunft über ihn erhalten, den Du suchest.«

      Sie zogen weiter, gelangten auf einem gewundenen Wege nach dem Talkessel hinunter und ritten dann den Berg Zion hinauf, um die Stadt auf seinem Gipfel zu erreichen. Der steil emporführende Weg war hier an beiden Seiten von niedrigen Mauern begrenzt, und auf diesen hockten und lagen zahllose Bettler und Krüppel, welche die Barmherzigkeit der Vorübergehenden anriefen.

      Während des langsamen Aufstiegs trat eine der jüdischen Frauen auf Faustina zu und sprach, indes sie ihr einen auf der Mauer hockenden Bettler zeigte: »Sieh, dort sitzt ein galiläischer Mann. Ich entsinne mich, ihn unter den Jüngern des Propheten gesehen zu haben. Der wird Dir sagen, wo Du ihn finden kannst, den Du suchest.«

      Faustina ritt mit Sulpicius auf jenen Bettler zu. Es war ein armer, alter Mann mit einem langen, halb ergrauten Bart. Sein Gesicht war von Hitze und Sonnenglut tief gebräunt, und seine Hände zeigten Arbeitsschwielen. Er verlangte nicht nach Almosen; er war so tief in kummervolle Gedanken versunken, daß er nicht einmal zu den Vorüberziehenden aufblickte.

      Er vernahm es auch gar nicht, daß Sulpicius ihn anredete, so daß dieser seine Frage einigemal wiederholen mußte.

      »Mein Freund, man sagte mir, Du seiest ein Galiläer. Daher bitte ich Dich, mir zu sagen, wo ich den Propheten aus Nazareth finden kann.«

      Der Galiläer schrak heftig zusammen und blickte verstört umher. Als er jedoch endlich verstand, was man von ihm wollte, packte ihn ein mit Entsetzen gemischter Zorn. »Was redest Du?« schrie er ihm zu. »Warum fragst Du mich nach jenem Manne? Ich weiß nichts von ihm. Ich bin kein Galiläer.«

      Nun mischte sich das jüdische Weib ins Gespräch: »Ich sah Dich doch in seiner Gesellschaft. Fürchte Dich nicht, sondern sage dieser vornehmen Römerin, die des Kaisers Freundin ist, wo sie ihn am schnellsten finden kann!«

      Der entsetzte Jünger wurde jedoch immer heftiger und schrie: »Sind denn heute alle Menschen toll geworden? Ist ein böser Geist in sie gefahren, daß sie alle auf einmal kommen, um mich nach jenem Manne zu fragen? Warum will mir denn keiner glauben, wenn ich es doch versichere, daß ich diesen Propheten gar nicht kenne? Ich komme nicht aus seiner Gegend. Ich habe ihn noch niemals gesehen.«

      Sein Ungestüm zog die Aufmerksamkeit auf ihn hin, und einige Bettler, die neben ihm auf der Mauer saßen, widersprachen ihm gleichfalls:

      »Du gehörtest ganz sicherlich zu seinen Jüngern. Wir alle wissen, daß Du mit ihm aus Galiläa gekommen bist.«

      Aber der Mann erhob beide Arme gen Himmel empor und rief: »Ich konnte es heute drinnen in Jerusalem um jenes Mannes willen nicht mehr aushalten, und nun läßt man mich