Selma Lagerlöf

Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke


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sein Haupt empor, und die greise Faustina sah sein Antlitz. Die Wangen zeigten Striemen von den Schlägen, und von seiner durch die Dornenkrone verwundeten Stirn perlten Blutstropfen herab. Das Haar hing, klebrig von Schweiß und Blut, in wirren Strähnen um sein Haupt. Seine Lippen waren fest geschlossen, bebten jedoch, als kämpften sie, um einem Schrei zu wehren. Die Augen starrten, von Tränen erfüllt, fast erloschen vor Qual und Erschöpfung.

      Doch unter dem Angesicht dieses halbtoten Menschen sah die Greisin wie in einer Vision ein schönes, bleiches Antlitz mit herrlichen, majestätischen Augen und sanftmütigen Zügen, und ihr Herz erbebte plötzlich in Trauer und Rührung über des fremden Mannes Unglück und Erniedrigung.

      »O, was hat man Dir getan, Du armer Mensch?« rief sie aus und trat ihm einen Schritt entgegen, während ihr Tränen in die Augen traten. Bei dieses gepeinigten Menschen Not vergaß sie ihren eigenen Gram und ihre Unruhe. Ihr wollte schier das Herz vor Mitleid brechen. Gleich den anderen Frauen wollte sie hineilen, um ihn seinen Henkern zu entreißen.

      Der Hingesunkene sah, daß sie auf ihn zukam, und er kroch näher an sie heran. Es war, als ob er erwartet hätte, bei ihr Schutz zu finden gegen alle jene, die ihn verfolgten und peinigten. Er umklammerte ihre Kniee. Er schmiegte sich an sie, wie ein Kind, das bei seiner Mutter Rettung sucht.

      Die Greisin beugte sich über ihn, und obwohl ihre Tränen strömten, empfand sie die seligste Freude darüber, daß er schutzflehend zu ihr gekommen war. Mit einem Arm umfaßte sie seinen Nacken, und so wie eine Mutter vor allem die Tränen ihres Kindes trocknet, legte sie ihr Schweißtuch von kühlem feinsten Linnen auf sein Angesicht, um die Tränen und das Blut fortzuwischen. Aber in diesem Augenblick hatten die Henkersknechte das Kreuz aufgehoben. Und nun kamen sie und rissen den Gefangenen an sich. Ungeduldig über die Verzögerung, schleppten sie ihn in wilder Hast fort. Dem Todgeweihten entrang sich ein Stöhnen, als man ihn von der eben gefundenen Freistatt fortriß, aber er leistete keinen Widerstand.

      Faustina umklammerte ihn, um ihn zurückzuhalten, und als sie erkannte, daß ihre schwachen, alten Hände nichts vermochten, und ihn erbarmungslos fortführen sah, da überkam sie eine Empfindung, als hätte ihr jemand ihr eigenes Kind geraubt, und sie rief: »Nein, nein! Nehmt ihn mir nicht fort! Er darf nicht sterben! Es kann nicht sein, daß er sterben soll!«

      Sie empfand den furchtbarsten Schmerz und Zorn, weil man ihn fortführte. Sie wollte ihm nach und mit den Henkersknechten kämpfen, um den Unglücklichen zu befreien. Aber bei dem ersten Schritt wurde sie vor Schwindel fast ohnmächtig. Sulpicius beeilte sich, sie mit seinem Arm zu stützen, um sie vor dem Umsinken zu bewahren.

      Er bemerkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen kleinen, dunkeln Laden und trug sie hinein. Es gab dort weder Stühle noch Bänke, aber der Ladenbesitzer war barmherzig. Er holte einen Teppich herbei und bereitete für die Greisin ein Lager auf dem Steinboden. Sie war nicht bewußtlos, hatte aber ein so heftiges Schwindelgefühl, daß sie sich nicht aufrecht erhalten konnte, sondern sich niederlegen mußte.

      »Sie hat heute einen langen Ritt hinter sich, und der Straßenlärm und das Gedränge waren zuviel für sie,« sagte Sulpicius zu dem Kaufmann. »Sie ist sehr alt, und so stark ist doch niemand, daß ihn das Alter nicht bezwingen könnte.«

      »Dies ist sogar auch ein schwerer Tag für einen, der noch nicht alt ist,« entgegnete der Kaufmann. »Die Luft ist fast zu drückend beim Atmen. Es sollte mich nicht wundern, wenn ein schweres Unwetter losbräche.« Sulpicius beugte sich über die Greisin. Sie war eingeschlummert und schlief nach all der Anstrengung und all dem Aufruhr des Gemüts mit stillen, regelmäßigen Atemzügen.

      Er trat in die Ladentür, um die Volksmenge zu beschauen, während er auf das Erwachen der Schläferin wartete.

      Der römische Landpfleger zu Jerusalem hatte eine junge Frau, und diese träumte in der Nacht vor Faustinas Einzug in die Stadt einen langen Traum.

      Ihr träumte, sie stehe auf dem Dache ihres Hauses und sehe auf den großen schönen Hofplatz hinunter, der nach morgenländischer Sitte mit Marmorfliesen ausgelegt und mit edlen Gewächsen bepflanzt war.

      Auf dem Hof sah sie alle Kranken, Blinden und Lahmen der Welt versammelt. Sie sah die Pestkranken mit ihren von Beulen geschwollenen Leibern, die Aussätzigen mit halbzerfressenen Gesichtern, die Lahmen, die sich nicht bewegen konnten, sondern hilflos am Boden lagen, und alle die Siechen, die sich in Schmerzen und Qualen wanden. Und alle drängten sich zum Eingang hin, und etliche der Vordersten pochten mit harten Schlägen an die Tore des Palastes.

      Schließlich sah sie, daß ein Sklave die Pforte öffnete und auf die Schwelle trat: dann vernahm sie, daß er die Siechen nach ihrem Begehren fragte.

      Da antworteten sie ihm und sprachen: »Wir suchen den großen Propheten, den Gott zur Erde hinabgesandt hat. Wo ist der Prophet von Nazareth, er, der über alle Pein Macht hat? Wo ist er, der uns von allen unseren Leiden zu erlösen vermag?«

      Und der Sklave antwortete ihnen in hochfahrendem, nachlässigem Tone, so wie Diener in den Palästen zu tun pflegen, wenn sie arme Fremdlinge abweisen:

      »Es nützt Euch nichts, nach dem großen Propheten zu suchen. Pilatus hat ihn getötet.«

      Da erhob sich unter all den Kranken ein Klagen und Jammern und Zähneknirschen, daß sie nicht imstande war, es mit anzuhören. Ihr Herz schien vor Mitleid zu zerspringen, und heiße Tränen entströmten ihren Augen. Aber sobald sie zu weinen anfing, war sie erwacht.

      Bald jedoch war sie wiederum eingeschlafen, und wieder träumte ihr, sie stehe auf dem Dache ihres Hauses und blicke zum großen Hof hinab, der so geräumig war wie ein Marktplatz.

      Und siehe, der Hof war voll von Menschen, die wahnsinnig und toll oder von bösen Geistern besessen waren. Und sie sah solche, die nackt waren, und andere, die sich in ihr langes Haar hüllten, und manche, die sich Strohkränze und Mäntel aus Gras geflochten hatten und Könige zu sein wähnten, und etliche waren, die auf der Erde krochen und sich für Tiere hielten, und solche, die beständig über einen Kummer weinten, dem sie keinen Namen zu geben wußten, und solche, die schwere Steine herbeischleppten, die sie für Gold ausgaben, und solche, die da meinten, daß die bösen Geister aus ihrem Munde redeten. Und sie sah, daß alle diese Menschen sich nach der Pforte des Palastes zu wälzten, und daß die in der vordersten Reihe klopften und pochten, um hinein zu gelangen.

      Schließlich öffnete sich die Pforte, und ein Sklave trat auf die Schwelle und fragte: »Wonach steht Euer Verlangen?«

      Da riefen sie und sprachen: »Wo ist der große Prophet von Nazareth, er, der von Gott gesandt ist, uns unsere Seele und unsere Vernunft wiederzugeben?«

      Und sie vernahm die in gleichgültigstem Ton gegebene Antwort des Sklaven:

      »Es nützt Euch nichts, nach dem großen Propheten zu suchen. Pilatus hat ihn getötet.«

      Da er also gesprochen hatte, stießen die Wahnsinnigen einen Schrei aus, der dem Geheul wilder Tiere glich, und sie begannen in ihrer Verzweiflung sich selbst zu zerfleischen, bis ihr Blut auf den Boden troff. Und als sie, die dies träumte, all jener Menschen Verzweiflung sah, rang sie ihre Hände und wehklagte. Und ihr eigenes Klagen hatte sie erweckt.

      Und abermals war sie eingeschlummert, und wieder befand sie sich im Traume auf dem Dache ihres Hauses. Und rings um sie her saßen ihre Sklavinnen, um ihr auf Zymbeln und Zithern vorzuspielen, und die Mandelbäume streuten ihre hellen Blütenblätter auf sie herab, und die Kletterrosen dufteten.

      Und während sie dort saß, rief eine Stimme ihr zu: »Gehe bis zur Balustrade vor, die Dein Dach umgibt, und schaue von dort in Deinen Hof hinab.«

      Sie aber weigerte sich im Traum und sprach: »Ich mag nicht noch mehr von jenen Menschen sehen, die sich heute nacht auf meinem Hof drängen.«

      In demselben Augenblick hörte sie von dorther Kettengerassel und schwere Hammerschläge und ein Aufschlagen von Holz auf Holz. Ihre Sklavinnen unterbrachen ihr Spielen und Singen, liefen zur Balustrade des Daches und blickten hinunter. Auch sie selber vermochte nicht, ruhig zu sitzen, sondern folgte ihnen und blickte auf den Hof hinab.

      Da