Am nächsten Tage sandte Tiberius drei Boten aus. Der erste Bote ging nach Rom mit dem Befehl, daß der Senat eine Untersuchung anstellen solle, wie der Landpfleger in Palästina sein Amt verwalte, und ihn bestrafe, wenn es sich erweisen sollte, daß er das Volk unterdrücke und Unschuldige zum Tode verurteile.
Der zweite Bote wanderte zu dem Winzer und seiner Frau, um ihnen zu danken und sie für den Rat zu belohnen, den sie dem Kaiser erteilt hatten. Auch sollte er ihnen berichten, wie alles abgelaufen war.
Als sie dies vernommen hatten, weinten sie leise, und der Mann sprach: »Ich bin sicher, daß ich mein Leben lang darüber nachgrübeln werde, was geschehen wäre, wenn die beiden sich begegnet wären.« Aber die Frau erwiderte: »Es konnte nicht sein. Schon der Gedanke, daß die beiden sich begegnen sollten, wäre unfaßlich. Gott, der Herr, wußte, daß die Welt dazu nicht reif war.«
Der dritte Bote ging nach Palästina und brachte einige von Jesu Jüngern nach Capri, wo diese die Lehre zu verkündigen begannen, die der Gekreuzigte gepredigt hatte.
Als diese Jünger in Capri landeten, lag die alte Faustina auf dem Sterbebette. Aber sie konnten die Greisin noch vor ihrem Tode zur Bekennerin des großen Propheten weihen und taufen. Und in der Taufe erhielt sie den Namen Veronika, weil es ihr beschieden war, der Menschheit das wahre Abbild ihres Heilands und Erlösers zu überliefern.
Das Rotkehlchen
Es war zur Zeit, als Gott der Herr die Welt erschuf, und nicht nur Himmel und Erde, sondern auch alle Tiere und Pflanzen, denen er zugleich ihre Namen gab.
Aus jener Zeit ließen sich viele Geschichten erzählen, und wenn man sie alle kennen würde, so hätte man auch eine Erklärung für alles in der Welt, was man jetzt nicht begreifen kann.
Damals geschah es eines Tages, als der Herrgott im Paradiese saß und die Vögel anmalte, daß die Farben in seinen Farbentöpfen ein Ende nahmen, so daß der Stieglitz farblos geblieben wäre, wenn der liebe Gott nicht alle seine Pinsel an seinen Federn abgewischt hätte.
Und damals geschah es auch, daß der Esel seine langen Ohren bekam, weil er sich seinen Namen nicht merken konnte. Er vergaß ihn, sobald er einige Schritte auf den paradiesischen Fluren gemacht hatte, und dreimal kam er zurück und fragte nach seinem Namen, so daß der liebe Gott schließlich etwas ungeduldig wurde, ihn an beiden Ohren faßte und zu ihm sprach: »Dein Name ist: Esel, Esel, Esel.«
Und während er also redete, zog er des Esels Ohren lang und länger, auf daß er ein besseres Gehör bekäme und sich dessen erinnerte, was man ihm sagte.
An demselben Tage fand auch die Bestrafung der Bienen statt. Denn als die Biene erschaffen war, begann sie sogleich Honig zu sammeln. Und Mensch und Tier, die den lieblichen Duft einatmeten, kamen herbei, um ihn zu kosten. Aber die Biene wollte alles für sich selber behalten und verjagte durch ihre giftigen Stiche alle, die sich der Honigwabe näherten. Das sah der liebe Gott, und flugs rief er die Biene herbei, um ihr eine Strafe aufzuerlegen: »Ich verlieh Dir die Gabe Honig zu sammeln, der das allersüßeste in der Schöpfung ist, aber damit gab ich Dir nicht das Recht, gegen Deine Nächsten hart zu sein. Nun denke daran daß jede Biene, die jemanden sticht, der ihren Honig kosten will, den Stich mit dem Tode zu büßen hat!«
Ach ja, das war damals, als die Grille blind wurde und die Ameise ihre Flüglein einbüßte; es geschah so viel Seltsames an jenem Tage.
Gott der Herr saß den ganzen Tag über erhaben und mild auf seinem Thron und erschuf und hauchte Odem ein, und gegen Abend verfiel er darauf, noch einen kleinen grauen Vogel zu erschaffen.
»Denke daran, daß Du Rotkehlchen heißen sollst!« sagte der liebe Gott zu dem Vogel, als er fertig geworden war. Und er setzte ihn auf seine Handfläche und ließ ihn fliegen.
Und als das Vöglein eine Weile umhergeflogen war und die schöne Erde betrachtet hatte, auf der es nun leben sollte, spürte es auch Lust, sich selber zu beschauen. Da merkte es, daß es ganz grau war, und daß seine Brust ebenso grau wie alles andere aussah. Das Rotkehlchen drehte und wendete sich hin und her und spiegelte sich im Wasser, aber es vermochte kein einziges rotes Federchen an sich zu entdecken.
Da flog das Vöglein zum lieben Herrgott zurück.
Unser lieber Herrgott saß gütig und mild auf seinem Thron, aus seinen Händen lösten sich Schmetterlinge, die sein Haupt umflatterten, Tauben gurrten auf seinen Schultern und rings um ihn her entsproßten der Erde Rosen, Lilien und Tausendschönchen.
Das Herz des Vögleins pochte vor Angst heftig in seiner kleinen Brust, aber in leichten Bogen flog es näher und näher auf den lieben Herrgott zu und setzte sich schließlich auf seine Hand.
Da fragte der himmlische Vater, was es von ihm wünsche, und das Vöglein antwortete:
»Ich möchte Dich nur noch etwas fragen.«
»Was willst Du also wissen?«
»Warum soll ich denn Rotkehlchen heißen, wenn ich doch vom Schnabel bis zur Schwanzspitze ganz grau bin? Warum werde ich Rotkehlchen genannt, wenn ich doch kein einziges rotes Federchen besitze?«
Und das Vöglein blickte mit seinen großen, schwarzen Augen flehend zu Gott dem Herrn empor und wandte das Köpfchen hin und her. Rundum erblickte es Fasanen, deren rotes Gefieder leicht mit Goldstaub gesprenkelt war, Papageien mit buschigen, roten Halskragen, Hähne mit roten Kämmen, und nun erst die Schmetterlinge, Goldfische und Rosen. Natürlich dachte das Vöglein bei diesem Anblick, wie wenig dazu gehörte – und wenn es nur ein einziger, kleiner Tropfen Farbe auf seiner Brust wäre – um es zu einem schönen Vogel zu machen, so daß sein Name passen würde.
»Warum soll ich Rotkehlchen heißen, wenn ich doch ganz grau bin?« wiederholte das Vöglein und erwartete, daß der liebe Gott sagen würde: »Ach, mein kleiner Freund, ich merke, daß ich vergessen habe, die Federn auf Deiner Brust rot anzumalen, aber warte nur einen Augenblick, dann wird die Sache bald erledigt sein.«
Doch der liebe Gott lächelte nur mild und sprach: »Ich habe Dich Rotkehlchen genannt, und Rotkehlchen sollst Du heißen, doch mußt Du selber zusehen, daß Du Dir Deine roten Brustfedern verdienen magst.« Und dann erhob Gott der Herr die Hand und ließ den Vogel aufs neue in die Welt hinausflattern.
Der Vogel flog in tiefem Sinnen durch das Paradies. Was sollte ein so kleiner Vogel, wie er, eigentlich tun, um sich rote Federn zu verdienen?
Das einzige, woran er noch zu denken vermochte, war die Wahl seiner Behausung in einem Dornenbusch. Zwischen den Stacheln des dichten Dornenrosengestrüpps baute er sein Nest. Er schien zu hoffen, daß ein Rosenblatt sich an seine kleine Kehle heften würde, um ihr seine Farbe zu verleihen.
Eine unendliche Zeit war seit jenem Tage verflossen, der der fröhlichste aller Erdentage gewesen ist. Seit jener Zeit hatten Tiere und Menschen das Paradies verlassen und sich über die Erde verbreitet. Und die Menschen hatten es so weit gebracht, daß sie das Land beackern konnten und das Meer zu befahren wußten, sie schafften sich Kleidung und Schmuckgeräte, ja, sie hatten schon vor langer Zeit gelernt, große Tempel und mächtige Städte, wie Theben, Rom und Jerusalem, zu erbauen.
Dann nahte ein neuer Tag, dessen man in der Geschichte der Welt noch lange gedenken sollte. Und am Morgen jenes Tages saß nun ein Rotkehlchen auf einem kleinen, nackten Hügel vor den Mauern Jerusalems und sang seinen Jungen vor, die inmitten eines niedrigen Dornenbusches in ihrem kleinen Nest ruhten.
Vogel Rotkehlchen erzählte seinen Kleinen von dem wunderbaren Schöpfungstage und von der Namengebung, wie es bisher jedes Rotkehlchen seinen Jungen erzählte, von dem allerersten her, das Gottes Ruf vernommen hatte und aus des Schöpfers Hand hervorgegangen war.
»Und nun seht,« schloß es traurig seinen Bericht, »so viele Jahre sind seit dem Schöpfungstage dahin, so viele Rosen sind verblüht, so viele junge Vögel sind aus dem Ei gekrochen, daß niemand sie zu zählen vermag, jedoch das Rotkehlchen ist noch immer ein kleiner, grauer Vogel. Noch ist es ihm nicht geglückt, der roten Brustfedern teilhaftig zu werden.«
Die kleinen jungen Vögelchen sperrten die Schnäbelchen weit