Pfeilern und Säulen.
Sobald eine Menschenstimme sich vernehmlich machen konnte, rief der Landpfleger einen Sklaven herbei. »Eile zum Richtplatz hinaus und befiehl in meinem Namen, daß der Prophet aus Nazareth vom Kreuze genommen werde!«
Der Sklave eilte fort. Die Tischgesellschaft begab sich vom Speisesaal nach dem Peristyl, um unter freiem Himmel zu sein, falls das Erdbeben sich wiederholen sollte. Niemand wagte ein Wort zu äußern, während sie die Wiederkehr des Sklaven erharrten.
Er kam sehr bald zurück und blieb vor dem Landpfleger stehen.
»Du fandest ihn noch lebend?« fragte dieser.
»Herr, er war dahingeschieden. Und in demselben Augenblick, als er den Geist aufgab, hat das Erdbeben eingesetzt.«
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als man von der Außenpforte her einige harte Schläge vernahm. Bei diesen Schlägen zuckte jeder zusammen, und alle sprangen auf, als hätte ein zweites Erdbeben die Stadt erschüttert.
Gleich darauf kam ein Sklave.
»Die edle Faustina und Sulpicius, des Kaisers Angehörige, entbieten Dir ihren Gruß. Sie sind mit der Bitte hergekommen, Du mögest ihnen helfen, den Propheten von Nazareth aufzusuchen.«
Im Peristyl erhob sich ein leises Gemurmel, und man vernahm gedämpfte Schritte. Als der Landpfleger umherblickte, erkannte er, daß seine Freunde von ihm gewichen waren, wie von einem, der dem Unheil verfallen ist.
9
Die alte Faustina war in Capri ans Land gestiegen und begab sich zum Kaiser. Sie berichtete ihm, was sie erlebt hatte, und wagte kaum ihn anzuschauen. Während ihrer Abwesenheit hatte die Krankheit grauenhafte Fortschritte gemacht, und sie sagte sich: »Gäbe es bei den Himmlischen Barmherzigkeit, so hätten sie mich sterben lassen, um mich davor zu bewahren, diesem armen, gepeinigten Menschen sagen zu müssen, daß nun alle Hoffnung dahin ist.«
Doch zu ihrem Staunen hörte Tiberius sie mit der größten Gleichgültigkeit an. Als sie ihm nun berichtete, daß gerade am Tage ihrer Ankunft in Jerusalem der große Wundertäter gekreuzigt worden sei, und wie nahe daran sie gewesen sei, ihn zu erretten, da begann sie unter dem Druck ihrer getäuschten Hoffnung bitterlich zu weinen.
Aber Tiberius sagte nur: »Darüber grämst Du Dich also wirklich? Ach, Faustina, ein ganzes in Rom verbrachtes Leben hat Dich nicht von dem Glauben an Zauberer und Wundertäter befreit, den Du während Deiner Kindheit in den Sabinerbergen mit der Luft eingeatmet hast?«
Da erkannte die Greisin, daß Tiberius niemals Hilfe von dem Propheten aus Nazareth erwartet hatte.
»Weshalb hast Du mich also diese Fahrt nach dem fernen Lande unternehmen lassen, wenn Du sie überhaupt für ganz nutzlos hieltest?«
»Du bist mein einziger Freund,« antwortete der Kaiser. »Weshalb sollte ich Dir eine Bitte abschlagen, solange ich noch die Macht habe, sie zu erfüllen?«
Doch es kränkte die Greisin, daß der Kaiser ihrer gespottet hatte.
»Sieh, das ist Deine alte Tücke,« rief sie aufbrausend. »Gerade das kann ich am wenigsten an Dir leiden.«
»Du hättest nicht zu mir zurückkehren sollen,« sagte Tiberius. »In Deinen Bergen hättest Du fortan bleiben müssen.«
Einen Augenblick schien es, als sollten die beiden, die so oft aneinandergeraten waren, wieder einen Streit ausfechten, doch die Heftigkeit der Greisin legte sich alsbald. Die Zeiten waren entschwunden, in denen sie ernstlich mit dem Kaiser hadern konnte. Sie senkte die Stimme, konnte aber nicht gänzlich auf den Versuch verzichten, dennoch recht zu behalten.
»Dieser Mann ist in Wahrheit ein Prophet gewesen,« sprach sie. »Ich habe ihn gesehen. Als sein Blick dem meinen begegnete, glaubte ich, er sei ein Gott. Ich muß wahnsinnig gewesen sein, als ich ihn in den Tod gehen ließ.«
»Ich bin froh, daß Du ihn sterben ließest,« entgegnete Tiberius. »Er war ein Majestätsverbrecher und ein Aufwiegler.«
Faustina war nahe daran, wieder vom Zorn übermannt zu werden.
»Ich habe in Jerusalem mit vielen seiner Freunde von ihm gesprochen,« warf sie ein. »Er hat niemals die Verbrechen begangen, deren man ihn anklagte.«
»Sollte er auch nicht gerade diese Verbrechen begangen haben, so war er doch wohl keinesfalls besser als irgendein anderer Mensch,« sprach der Kaiser in mattem Tone. »Wo wäre wohl der Mensch zu finden, der während seiner Lebenszeit nicht tausendfach den Tod verdient hätte?«
Diese Worte des Kaisers bestimmten nun Faustina etwas zu tun, wozu sie sich bis dahin noch nicht hatte entschließen können. »Ich werde Dir also einen Beweis für seine Macht geben,« sprach sie. »Eben erzählte ich Dir, daß ich mein Schweißtuch über sein Antlitz gebreitet hatte. Es ist dasselbe Tuch, das ich jetzt hier in meiner Hand halte. Willst Du es einen Augenblick betrachten?«
Sie breitete das Tuch vor dem Kaiser aus, und er erblickte dort den schattengleichen Abriß eines Menschenangesichts.
Die Stimme der Greisin bebte vor Rührung, als sie weiterberichtete: »Jener Mann erkannte, daß ich ihn liebte. Ich weiß nicht, durch welche Macht er es vermochte, mir sein Bild zu hinterlassen. Doch bei seinem Anblick füllen sich meine Augen mit Tränen.«
Der Kaiser beugte sich vor und betrachtete das Bild, das aus Blut und Tränen und den schwarzen Schatten der Leiden gestaltet zu sein schien. Und allmählich trat das ganze Antlitz deutlich hervor, wie es sich dem Schweißtuch eingeprägt hatte. Er erkannte die Blutstropfen auf der Stirn, die stachlichte Dornenkrone, das von Blut verklebte Haar und den Mund, dessen Lippen vor Leiden zu beben schienen.
Immer tiefer beugte er sich auf das Bild hinab. Klarer und klarer trat das Antlitz hervor. Aus den schattenhaften Linien sah er plötzlich die Augen wie von verborgenem Leben erstrahlen. Und während sie ihm das furchtbarste Leid offenbarten, zeigten sie ihm eine Reinheit und Hoheit, wie er sie nimmer zuvor erschaut hatte.
Er lag auf seiner Ruhebank und sog dieses Bild mit den Blicken ein. »Ist dies ein Mensch?« flüsterte er leise und weich. »Ist dies ein Mensch?«
Dann lag er wieder still da und versenkte sich in das Anschauen des Bildes. Tränen strömten über seine Wangen herab. »Ich betraure Deinen Tod, Du Ungekannter,« flüsterte er. Schließlich rief er aus:
»Faustina, warum hast Du diesen Mann sterben lassen? Er würde mich geheilt haben.«
Und wieder versank er in Betrachtung des Bildes.
»Du Mensch!« sprach er nach einer Weile. »Kann ich auch nicht mehr durch Dich erlöst werden, so kann ich Dich doch rächen. Meine Hand wird schwer auf jenen lasten, die mich Deiner beraubt haben.«
Wieder lag er eine geraume Zeit still da, dann aber ließ er sich zur Erde hinabgleiten und sank vor dem Bilde auf die Knie.
»Du bist ein Mensch,« sagte er. »Du bist der, dessen ansichtig zu werden ich nimmer glaubte.« Er wies auf sich, sein zerstörtes Gesicht und seine von Eiter zerfressenen Hände. »Ich und alle anderen, wir sind Raubtiere und Ungeheuer, aber Du bist ein Mensch.«
Er beugte den Kopf so tief vor dem Bilde, daß er den Boden berührte. »Erbarme Dich meiner, Du Ungekannter!« flehte er, und seine Tränen benetzten die Steine.
»Wenn Du noch lebtest, so würde Dein Anblick allein mich heilen,« sprach er dann wieder.
Die arme, alte Faustina erschrak darüber, was sie getan hatte. Sie dachte, daß es klüger gewesen wäre, hätte sie dem Kaiser das Bild nicht gezeigt. Von Anfang an hatte sie gefürchtet, daß sein Kummer zu übermächtig sein würde, wenn er es zu sehen bekäme.
Und in ihrer Verzweiflung über des Kaisers Kummer riß sie das Bild an sich, als wollte sie ihm dessen Anblick entziehen.
Da sah der Kaiser auf. Und siehe da, seine Gesichtszüge hatten sich gänzlich verwandelt, und er war wieder so wie vor seiner Krankheit. Es war, als hätte dieses Leiden seine Wurzel und Nahrung einzig und allein in dem Haß und