Selma Lagerlöf

Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke


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dunkeln Kerkerhöhlen, in schwere Eisenketten geschlossen, verschmachteten. Sie erkannte jene, die in den finsteren Bergwerken arbeiteten und die ihre Hämmer herbeigeschleppt hatten, und sie sah die Ruderknechte der Kriegsschiffe mit ihren schweren, eisenbeschlagenen Rudern. Und jene, die zum Kreuzestod verurteilt waren, schleppten ihre Kreuze, und die enthauptet werden sollten, kamen mit ihren Richtbeilen. Und sie erblickte jene, die nach fremden Ländern in die Sklaverei geschleppt wurden, und deren Augen vor Heimweh flackerten und brannten. Sie sah all jene elenden Sklaven, die wie Lasttiere arbeiten mußten, und deren Rücken von Geißelhieben bluteten.

      Alle diese Unglückseligen riefen einstimmig und sprachen: »Oeffnet, öffnet!«

      Da trat der Sklave, der die Eingangspforte hütete, heraus und fragte sie: »Was ist es, wonach Ihr verlanget?«

      Und sie antworteten wie die anderen: »Wir suchen den großen Propheten von Nazareth, der zur Erde herabgekommen ist, um den Gefangenen die Freiheit und den Sklaven das Glück wiederzugeben.«

      Aber der Sklave antwortete ihnen mit müdem und gleichgültigem Ton: »Ihr werdet ihn hier nicht finden. Pilatus hat ihn getötet.«

      Nach diesen Worten vermeinte sie, die träumte, einen solchen Ausbruch von Wut und Hohn unter den Unglücklichen zu vernehmen, daß der Himmel und die Erde erbebten. Sie selber war wie erstarrt vor Entsetzen, ein krampfhaftes Zittern durchfuhr ihren Leib, und sie erwachte.

      Als sie nun ganz wach war, richtete sie sich in ihrem Bette auf und sprach vor sich hin: »Ich will nicht mehr träumen. Ich werde mich jetzt die ganze Nacht durch wach halten, auf daß es mir erspart sei, nochmals so Furchtbares sehen zu müssen.«

      Aber fast in demselben Augenblick hatte der Schlaf sie aufs neue übermannt, sie sank in die Kissen zurück und war eingeschlummert.

      Und abermals träumte sie, sie sitze auf dem Dache ihres Hauses, und ihr kleiner Sohn laufe dort oben hin und her und spiele mit seinem Ball.

      Da vernahm sie eine Stimme, die zu ihr sprach: »Geh zur Balustrade, die das Dach umgibt, und sieh, wer jene sind, die wartend auf Deinem Hof stehen.«

      Sie aber, die träumte, sprach vor sich hin: »Ich habe heute nacht zu viel Elend gesehen. Ich könnte es nicht mehr ertragen. Ich will bleiben, wo ich bin.«

      In diesem Augenblick warf ihr Knabe den Ball so weit, daß er über die Balustrade flog, und das Kind lief hin und kletterte auf das Geländer. Da erschrak sie heftig. Sie eilte ihm nach und griff nach dem Kinde.

      Dabei warf sie jedoch einen Blick hinunter und sah abermals, daß der Hof voller Menschen war.

      Und es standen dort alle Menschen der Erde, die in Kriegen verwundet worden waren. Sie kamen mit verstümmelten Leibern und mit tiefen, offenen Wunden, aus denen Blut rann, so daß der ganze Hof davon überflutet war.

      Und neben ihnen drängten sich dort all jene Menschen der Erde zusammen, die ihre Lieben auf den Schlachtfeldern verloren hatten. Es waren die Vaterlosen, die ihre Beschützer betrauerten, und die jungen Frauen, die nach ihren Herzlichsten riefen, und die Greisinnen, die nach ihren Söhnen seufzten.

      Die Vordersten drängten sich nach der Tür hin, und ganz wie zuvor kam der Türhüter und öffnete.

      Er fragte all diese in Kampf und Streit Verwundeten: »Was sucht Ihr in diesem Hause?«

      Und sie antworteten: »Wir suchen den großen Propheten von Nazareth, der Krieg und Feindschaft abschaffen und den Frieden auf Erden bringen wird. Wir suchen ihn, der die Schwerter zu Sensen umschmieden wird und die Speere zu Winzermessern.«

      Da antwortete der Sklave ein wenig ungeduldig: »Kommt nun nicht mehr wieder, mich zu plagen! Ich habe es Euch schon oft genug gesagt: Der große Prophet ist nicht hier. Pilatus hat ihn getötet.«

      Dann schloß er das Tor. Doch sie, die träumte, dachte an all den Jammer, der nun laut werden würde. »Ich mag ihn nicht hören,« rief sie und stürzte von der Balustrade fort. In demselben Augenblick erwachte sie. Und nun merkte sie, daß sie vor Angst aus ihrem Bett gesprungen war und auf dem kalten Steinboden stand.

      Abermals hatte sie sich vorgenommen, in dieser Nacht nicht mehr zu schlafen, und wieder hatte der Schlaf sie übermannt, so daß sie die Augen schloß und zu träumen begann.

      Nochmals saß sie auf dem Dache ihres Hauses, und an ihrer Seite stand ihr Gatte. Sie erzählte ihm ihre Träume, und er machte sich darüber lustig. Da vernahmen sie wieder eine Stimme, die zu ihr sprach: »Geh und sieh die Menschen, die auf Deinem Hof warten.«

      Sie aber sagte sich: »Ich will sie nicht schauen. Ich habe heute nacht schon zu viel Unglückliche gesehen.«

      Da vernahm sie drei harte Schläge gegen die Pforte, und ihr Gatte trat zur Balustrade hin, um zu sehen, wer da in sein Haus eintreten wolle.

      Doch kaum hatte er sich über das Geländer gebeugt, als er auch schon seiner Frau winkte, heranzukommen.

      »Kennst Du wohl diesen Mann?« fragte er, hinunterweisend.

      Als sie nun in den Hof hinabblickte, erkannte sie, daß es dort von Reitern und Pferden wimmelte. Sklaven waren damit beschäftigt, von Eseln und Kamelen die schweren Lasten abzuladen. Es schien, als sei ein vornehmer Reisender angelangt.

      Der stand vor der Eingangspforte. Es war ein hochgewachsener, alter Mann mit breiten Schultern, der schwermütig und finster aussah.

      Die Träumende erkannte den Fremdling sogleich und flüsterte ihrem Gatten zu: »Das ist Cäsar Tiberius, der nach Jerusalem gekommen ist. Kein anderer kann es sein.«

      »Auch ich glaube ihn zu erkennen,« sprach ihr Mann und legte den Finger auf seine Lippen, zum Zeichen, daß sie schweigen und lauschen möge, was unten im Hof gesprochen wurde.

      Sie sahen, daß der Türwächter heraustrat und den Fremdling fragte: »Wer ist es, den Du suchest?«

      Und der Fremdling antwortete: »Ich suche den großen Propheten von Nazareth, dem Gott Wunderkräfte verliehen hat. Der Kaiser Tiberius ruft ihn, auf daß er ihn von einer schrecklichen Krankheit befreien möge, die kein anderer Arzt zu heilen vermag.«

      Als er gesprochen hatte, neigte sich der Sklave in tiefer Demut und sprach: »Herr, zürne nicht, aber Dein Wunsch ist unerfüllbar.«

      Da wandte sich der Kaiser an seine Sklaven, die unten am Hofeingang warteten, und erteilte ihnen einen Befehl.

      Und die Sklaven liefen herzu. Etliche trugen in ihren Händen reiches Geschmeide, andere hielten Schalen, in denen große Mengen echter Perlen lagen, und wieder andere schleppten Säcke mit Goldmünzen.

      Der Kaiser wandte sich an den Sklaven, der die Pforte hütete, und sprach: »Dies alles soll sein eigen werden, wenn er Tiberius helfen will. Allen Armen der Welt kann er damit Reichtum verleihen.«

      Und der Türhüter neigte sich noch tiefer als zuvor und sprach: »Herr, zürne Deinem Knechte nicht, aber Dein Verlangen ist unerfüllbar.«

      Da winkte der Kaiser abermals seinen Sklaven, und etliche von ihnen liefen herzu und brachten ein reichgesticktes Gewand, an dem ein Brustschild von Juwelen erglänzte.

      Und der Kaiser sprach zu dem Sklaven: »Schau her! Was ich ihm hier biete, ist die Herrschaft über Judäa. Er soll sein Volk als dessen höchster Richter regieren. Nur soll er zuvor mir folgen, um Tiberius zu heilen.«

      Und der Sklave neigte sich noch tiefer zur Erde hinab und sprach: »Herr, es steht nicht in meiner Macht, Dir zu helfen.«

      Da winkte der Kaiser abermals, und seine Sklaven eilten mit einem goldenen Stirnreif und einem Purpurmantel herbei.

      »Sieh,« sprach er, »dies ist des Kaisers Wille: Er gelobt, ihn zu seinem Erben einzusetzen und ihm die Herrschaft über die ganze Welt zu verleihen. Er soll die Macht haben, die ganze Erde nach dem Willen seines Gottes zu lenken. Möge er nur zuvor seine Hand ausstrecken, um Tiberius zu heilen.«

      Da sank der Sklave zu des Kaisers Füßen nieder und rief mit wehklagender Stimme: »Herr, es steht nicht in meiner Macht, Dir zu gehorchen. Er, den