wandte sich mit einem Achselzucken ab und sprach: »Laß uns weiterziehen. Dieser Mann ist wahnsinnig. Von ihm werden wir nichts erfahren können.«
Sie zogen weiter bergaufwärts. Als Faustina kaum zwei Schritte vom Stadttor entfernt war, rief die Israelitin, die ihr zur Auffindung des Propheten hatte verhelfen wollen, sie möge sich in acht nehmen. Sie zog die Zügel an und sah, daß dicht vor den Hufen ihres Pferdes ein Mann am Boden lag. Im Staube war er hingestreckt, wo das Gedränge am dichtesten war, und es war ein Wunder, daß er nicht längst von Tieren oder Menschen niedergetreten worden war.
Der Mann lag auf dem Rücken und starrte mit erloschenen, glanzlosen Augen zum Himmel empor. Er lag regungslos, obwohl die Kamele ihre schweren Füße dicht neben ihm auf den Boden setzten. Er war armselig gekleidet und obendrein mit Staub und Erde befleckt. Dazu hatte er so viel Sand über sich gebreitet, daß es den Anschein gewann, als suche er sich zu verbergen, um leichter überritten oder zerstampft zu werden.
»Was bedeutet das? Warum liegt dieser Mann hier auf dem Wege?« fragte Faustina.
Alsogleich begann der am Boden Liegende den Vorüberziehenden zuzurufen: »Brüder und Schwestern, bei Eurer Barmherzigkeit, führet Eure Pferde und Lasttiere über mich hin! Weichet mir nicht aus! Zerstampfet mich zu Staub! Ich verriet unschuldig Blut! Zerstampfet mich zu Staub!«
Sulpicius faßte Faustinas Pferd am Zügel und lenkte es beiseite. »Das ist ein Sünder, der Buße tun will,« sagte er. »Laß Dich dadurch nicht länger aufhalten! Dieses Volk ist sehr absonderlich, und man muß diese Menschen ihre eigenen Wege gehen lassen.«
Der Mann am Boden fuhr fort zu rufen: »Setzet Eure Fersen auf mein Herz! Lasset Eure Kamele meine Brust zerstampfen und die Esel ihre Hufe in meine Augen bohren!«
Doch Faustina meinte, nicht vorüberreiten zu können, ohne daß sie versuchte, den Unglücklichen zum Aufstehen zu bewegen. Sie wartete noch immer neben ihm.
Die Israelitin, die ihr schon einmal hatte beistehen wollen, drängte sich nun wieder bis zu ihr hin. »Auch dieser Mann gehörte zu den Jüngern des Propheten,« sagte sie. »Soll ich ihn nach seinem Meister fragen?«
Faustina nickte bejahend. Das Weib beugte sich über den am Boden Liegenden und fragte:
»Was habt Ihr Galiläer denn heute mit Eurem Meister getan? Ich treffe Euch auf Wegen und Stegen zerstreut, ihn aber erblicke ich nirgends.«
Aber während ihrer Frage hob der Mann im Straßenstaube sich auf seine Knie empor. »Welch ein böser Geist hat Dir eingegeben, mich nach ihm zu fragen?« sagte er mit einer Stimme, die in Verzweiflung bebte. »Du siehst doch, daß ich mich in den Straßenstaub geworfen habe, um zertreten zu werden. Ist Dir das noch nicht genug? Mußt Du nun auch noch kommen und mich fragen, was ich mit ihm getan habe?«
»Ich begreife nicht, was Du mir vorzuwerfen hast,« antwortete die Israelitin. »Ich möchte ja nur erfahren, wo Du Deinen Meister gelassen hast.«
Als sie die Frage wiederholte, sprang der Mann auf und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu.
»Wehe Dir, daß Du mich nicht in Frieden sterben lassen willst!« rief er. Und indem er sich durch die Volksmenge Bahn brach, die sich vor dem Stadttor zusammendrängte, stürzte er, vor Entsetzen aufheulend, von dannen, und seine zerfetzten Gewänder umflatterten ihn wie dunkle Flügel.
»Mich dünkt es, daß wir zu einem Volk von Wahnwitzigen gekommen sind,« sagte Faustina, als sie den Mann entfliehen sah. Der Anblick dieser Jünger des Propheten hatte sie tief betrübt. Konnte ein Mann, der solche Wahnsinnigen in seiner Jüngerschar hatte, etwas für den Kaiser tun?
Auch die Israelitin sah kummervoll aus und sprach mit tiefem Ernst zu Faustina:
»Gebieterin, zögere nicht den aufzusuchen, den Du finden möchtest! Ich fürchte, daß ihn ein Unglück heimgesucht hat, denn seine Jünger sind so von Sinnen, daß sie es nicht ertragen können, von ihm auch nur reden zu hören.«
Faustina ritt mit ihrem Gefolge endlich durch das Torgewölbe. Sie kamen durch enge, düstere Gassen, in denen es von Menschen wimmelte. Es schien fast unmöglich, dort vorwärts zu kommen. Mal auf mal mußten die Reitenden ihre Pferde anhalten. Die Sklaven und die Kriegsknechte bemühten sich vergeblich, den Weg frei zu machen. Die Menschen drängten sich unaufhörlich in einem dichten, unhemmbaren Strome vorbei.
»Wahrhaftig,« sprach die Greisin zu Sulpicius, »Roms Straßen sind im Vergleich mit diesen Gassen stille, ruhige Gärten zu nennen.«
Sulpicius erkannte bald, daß fast unüberwindliche Schwierigkeiten ihrer warteten, und sagte:
»Man wird in diesen überfüllten Straßen wohl leichter gehen als reiten können. Vorausgesetzt, daß Du nicht gar zu müde bist, würde ich Dir raten, bis zum Palast des Landpflegers zu Fuß zu gehen. Zwar ist es eine weite Strecke, wenn wir aber reiten sollen, so werden wir ganz gewiß nicht vor Mitternacht hingelangen.«
Faustina war sofort einverstanden. Sie stieg vom Pferde und übergab es einem der Sklaven. Dann begannen die Römer insgesamt ihre Fußwanderung durch die Stadt.
Sie gelang ihnen weit besser. Ziemlich rasch drangen sie bis zum Herzen der Stadt vor, und eben zeigte Sulpicius Faustina eine halbwegs breite Straße, die sie bald erreichen mußten.
»Sieh, Faustina, wenn wir nur erst in diese Straße gelangen, so ist es überstanden, denn sie führt uns gerade nach unserer Herberge.«
Aber als sie eben in diese Straße einbiegen wollten, stießen sie auf das ärgste Hindernis.
Denn in demselben Augenblick, da Faustina an der Straße war, die sich vom Palast des Landpflegers bis zur Pforte der Gerechtigkeit und bis nach Golgatha hinzog, geleitete das Volk dort einen Gefangenen, der hinausgeführt wurde, um ans Kreuz geschlagen zu werden. Eine Schar junger, erregter Menschen raste vor ihm her. Sie stürmten wild durch die Straße, sie streckten wie in Begeisterung die Arme empor und stießen ein unverständliches Freudengebrüll aus, weil sie bald etwas sehen sollten, was sich ihnen nicht jeden Tag darbot.
Ihnen folgten Scharen von Menschen in Seidengewändern. Sie schienen zu den vornehmsten und höchsten Personen der Stadt zu gehören. Hinter ihnen schritten Frauen, von denen viele bitterlich weinten. Eine Gruppe von Bettlern und Krüppeln stieß ein ohrenzerreißendes Geschrei aus. Die Verzweifelten riefen:
»O Gott! Rette ihn! Sende Deine Engel herab und errette ihn! Sende ihm einen Helfer in seiner bittersten Not!«
Endlich nahten einige römische Söldner auf großen Pferden. Sie wachten darüber, daß keiner aus der Volksmenge zu dem Gefangenen stürze und ihn zu befreien versuche. Gleich hinter ihnen kamen die Henkersknechte, die den Mann geleiten mußten, der gekreuzigt werden sollte. Sie hatten ihm ein großes, schweres Holzkreuz auf die Schultern geladen, er aber war zu schwach für diese Last. Sie drückte ihn so, daß sein Körper sich darunter tief zum Boden niederbeugte. Sein Haupt war so tief gesenkt, daß niemand sein Antlitz erkennen konnte.
Faustina stand am Eingang der kleinen Nebengasse und sah der schweren Wanderung des zum Tode Verurteilten zu. Staunend gewahrte sie, daß er einen Purpurmantel trug und eine Dornenkrone auf sein Haupt gedrückt worden war.
»Wer ist der Mann?« fragte sie.
Einer der Umstehenden antwortete ihr: »Das ist einer, der sich zum Kaiser machen wollte.«
»So muß er den Tod für etwas erleiden, das wenig erstrebenswert ist,« sprach die Greisin wehmütig.
Der Verurteilte wankte unter dem Kreuze. Seine Schritte wurden immer langsamer. Die Henkersknechte hatten einen Strick um seinen Leib geschlungen und begannen daran zu zerren, um ihn schneller vorwärts zu treiben. Als sie aber den Strick fester anzogen, sank der Mann um und blieb mit dem Kreuze über sich liegen.
Da entstand ein gewaltiger Lärm. Die römischen Reiter vermochten nur mit großer Mühe das Volk zurückzuhalten. Sie zogen ihre Schwerter gegen einige Frauen, die vorzudringen suchten, um dem Niedergesunkenen beizustehen. Die Henkersknechte wollten ihn mit Schlägen und Stößen zwingen, sich zu erheben, er aber vermochte