war auch die Möglichkeit der vergleiteten Juden, ihren Kindern Schutzbriefe zu verschaffen, sie „anzusetzen“ (so der Fachausdruck). Bis 1714 war das ohne Probleme für mehrere Kinder möglich. Danach konnte nur der Älteste den Schutzbrief direkt vom Vater erben, ein zweiter Sohn musste mindestens 1 000 Taler Vermögen nachweisen, ein dritter konnte noch bei 2 000 Talern Vermögen angesetzt werden; die Konzession kostete 50, beziehungsweise 100 Taler. Über die Töchter konnten fremde Juden als Schwiegersöhne mitangesetzt werden; auf diese Weise kam zum Beispiel der Essener Berend Lehmann zu seinem brandenburgischen Schutzbrief.100
Sinnvoll waren solche Erweiterungen der Familiengeschäfte allerdings nur, wo es Verdienstmöglichkeiten gab. Halberstadt lag günstig zu den Handelsplätzen Magdeburg, Braunschweig und vor allem Leipzig, wo noch im frühen 18. Jahrhundert die alten Juden-Vertreibungsedikte galten und wo Juden nur während der Messezeiten zugelassen waren. So nehmen in Freudenthals Wiedergabe der Leipziger Messebesucherlisten für die Jahre 1675–1764 die Halberstädter Juden 20 Seiten ein, auf gleichem Rang nur mit Prag, während für die Berliner neun Seiten genügen, für die aus Frankfurt am Main fünf.101 Relativen Wohlstand spiegelt deshalb auch die Halberstädter preußische Judenliste von 1737, wo ausnahmweise außer Namen und Haushaltsgröße der Beruf und unter „Conduite“ auch annäherungsweise der ökonomische Status von 185 männlichen Haushaltsvorständen abgelesen werden kann: Viele „handeln auf den Messen“, und zwar sowohl reiche Juweliere und Seidenwarenhändler als auch solche, von denen es heißt: „Nähret sich kümmerlich“.102
Zwar lebt etwa ein Viertel der Aufgelisteten in solchen „kümmerlichen“ Verhältnissen, denn nicht jeder setzt sich durch, es hinterbleiben Witwen und Waisen; aber insgesamt gesehen geht es den Halberstädter Juden so gut, dass um 1700 im Schnitt jede Halberstädter Judenfamillie ein eigenes Haus besitzt.103 − Dies als Andeutung der wirtschaftlichen Gründe des starken jüdischen Bevölkerungswachstums, die natürlich im Rahmen einer höchst wünschenswerten umfassenden Geschichte der Halberstädter Juden genauer untersucht werden müssten.
Der zweite Grund für den Anwachs hängt mit dem Protagonisten dieser Arbeit zusammen, dem Hofjuden und langjährigen Judenvorsteher Berend Lehmann: Er schafft der jüdischen Gemeinschaft religiös-institutionellen Rückhalt: gründet ein Thora-Talmud-Lehrhaus (die „Klaus“), in dem berühmte Rabbiner “lernend“* lehren; ihre Werke bringt er zum Druck. Er baut vor allem eine neue, große und prächtige Synagoge; außerdem unterstützt er die armen Juden der Stadt durch Almosen und Stiftungen104.
In den Berichten der konservativ-ständisch eingestellten Halberstädtischen Regierung* an den Kurfürsten/König spiegelt sich die Angst vor der Attraktivität dieser Lehmannschen Einrichtungen wider. Sie empfiehlt zum Beispiel am 2. April 1700, daß die bereits erteilte „conceßio [...] wegen der neuen Schule [an anderer Stelle auch „Academie“ und „Seminarium“] gnädigst revociret [zurückgenommen] und solcher gestalt in Zukunft allem ferneren Anwachs nachtrücklich gesteuret wird“.105
Und im Halberstädter Ratslagerbuch von 1721 (vgl. Dok. 1) heißt es: „Sie haben aber anjetzo einen neu erbaueten Tempel und sich sehr weit über diese Zahl vermehret, welches auch die hiesigen Kauff- und Handels-Leute mit ihrem höchsten ruin empfinden,[...]“.106
Wohnquartiere und Wohnverhältnisse der Halberstädter Juden um 1700
Wie und wo wohnten nun die so zahlreichen Halberstädter Juden zur Zeit des berühmten „königlich polnischen Residenten“?
Als Berend Lehmann – vermutlich in der zweiten Hälfte der 1680er Jahre107 – sich in Halberstadt niederließ, hatten die Halberstädter Juden bereits seit längerem ihr ehemals bevorzugtes Wohngebiet aus der bürgerstädtischen Marktumgebung der Göddenstraße („Juden“-Straße) an den nordwestlichen Rand der Unterstadt verlegt. Dort, in der Voigtei*, dem traditionellen Versorgungsbezirk der Bischöfe, kauften oder bauten sie Häuser, oder sie wohnten bei anderen Juden zur Miete (Vgl. Stadtplanausschnitt, Abb. 4). Seit Auerbach108 nimmt man an, dass eine 1669 von den Halberstädtischen Landständen zerstörte Synagoge noch in der Göddenstraße gestanden habe. Diese Annahme lässt sich nicht halten.
Nach den umfangreichen Akten über diese Synagogenzerstörung im Berliner Geheimen Preußischen Staatsarchiv lag dieses unauffällige Schul- und Gottesdienstgebäude „hinter Jeremiæ Jacobi Wohnhause“109. Der damalige Judenvorsteher Jeremias Jacob wohnte in einem der sechs schon damals von Juden bewohnten Häuser auf der „Domkapitularischen Freiheit“. 110 – Was bedeutet das?
Wie eine spätere Häuserliste ausweist,111 hatte das Domkapitel Grundstücke auf der Hühnerbrücke, im Rosenwinkel, auf der Bakenstraße und in der Judenstraße, keines dagegen in der Göddenstraße. Wahrscheinlich hat Jeremias Jacobs Haus mit der zerstörten Synagoge in der Judenstraße im Bereich des heutigen Berend-Lehmann-Museums gestanden, wo laut der Halberstädter Judenliste vom 3. April 1669 bereits der damalige Rabbiner und ein weiterer Gemeindevorsteher wohnten.
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Abb. 4: Das bevorzugte Wohngebiet der Halberstädter Juden um 1700. Ausschnitt aus dem amtlichen Halberstädter Stadtplan von 1933 (alle früheren sind ungenau, aber Straßenführung und Parzellierung hatten sich vermutlich von 1700 bis 1933 nicht wesentlich verändert).
In einer baugeschichtlichen Dissertation erläuterte Monika Lüdemann 2003,112 die Kernzelle der sich seit 1534 langsam, nach 1650 schneller entwickelnden jüdischen Ansiedlung in der Voigtei sei eben diese Judenstraße gewesen. Angesichts der Tatsache von nur sechs jüdischen Häusern in der Judenstraße im Jahre 1669 gegenüber 19 „auff der Bürgerschafft“ (meist in der Bakenstraße) lässt sich diese Darstellung nicht halten. Dass dann allerdings dreißig Jahre später 15 Häuser in der Judenstraße jüdisch bewohnt waren, mag in der Tat, wie Lüdemann vermutet, damit zusammengehangen haben, daß diese enge Straße samt ihrer Ausbuchtung, dem Neuen Markt, von den Juden als in sich abgeschlossener „Eruw“ (Häuserverbindung) betrachtet werden konnte, als Bezirk, innerhalb dessen man sich auch am Sabbat bewegen durfte.
Unter den zahlreichen in der Voigtei befindlichen „Freiheiten“* (Liegenschaften frei von der städtischen Jurisdiktion*, statt dessen etwa in der Gerichtsbarkeit auswärtiger Adliger, des Domkapitels, der königlichen Regierung oder der Klöster und Stifte)113 bot – so Lüdemann – insbesondere die Domfreiheit sowohl den Juden wie dem Klerus von alters her Vorteile: Die Juden schätzten die dort gewährleistete tatsächliche Freiheit von bürgerlichen Lasten wie „Kriegs- und Wachdienst, Einquartierungen und Kriegssteuern“,114 der Klerus die kommerziellen Dienstleistungen der Juden.
In einer weiteren Halberstadt-geschichtlichen Dissertation erklärt Walter Halama darüber hinaus die Beliebtheit der Domfreiheit bei den Juden damit, dass das Domdekanat relativ großzügig Erbpacht*-Laufzeiten erteilte und verlängerte.115
Neben der Domfreiheit gab es die Regierungsfreiheit unter der unmittelbaren Jurisdiktion des Kurfürsten/Königs in der Verwaltung der