Klosters Michaelstein war).116
Bakenstraße, Rosenwinkel und Seidenbeutel dagegen unterstanden weitgehend dem Magistrat*, die meisten Häuser dort werden als „auf der Bürgerschaft“* liegend bezeichnet.
Es handelte sich aber bei den „Freiheiten“ nicht um in sich geschlossene Areale. Zum Beispiel gab es in der auch als „Domdechaney“-Straße bezeichneten Judenstraße mehrere Judenhäuser „auf der Bürgerschaft“.
Die Entwicklung jüdischen Wohnens und Bauens in Halberstadt steht in Wechselwirkung mit Pendelbewegungen in der preußischen Juden-Immobilien-Politik, von der auch Berend Lehmann betroffen war: Der Große Kurfürst bestätigt beim Zuzug von geflüchteten österreichischen Juden 1671 die Zusage seines judenfreundlichen Edikts von 1650: Juden dürfen Häuser bauen, kaufen oder mieten. Friedrich III. bestätigt 1691 für alle „vergleiteten“ Juden diese Erlaubnis.
1697 allerdings revoziert er (mitveranlasst durch einen umstrittenen Hauserwerb Berend Lehmanns)117 diese liberale Politik: Er verbietet den Juden Bau und Neukauf; sein Nachfolger, König Friedrich Wilhelm I. (1688–1740), erlaubt den Hauskauf nur mit spezieller Genehmigung für kurze Zeit, um ihn 1718 wieder zu untersagen. Die Verbote werden allerdings nicht strikt befolgt.
Lüdemann hat berechnet, dass die Wohndichte in Halberstadt mit nur 7 Personen pro jüdischem Haus sehr günstig war; in Frankfurt am Main lag sie zur selben Zeit (1699) bei bis zu 18 Personen pro Haus.118
Der Höchstbestand an Judenhäusern in absoluten Zahlen wurde beim Regierungsantritt Friedrichs II. (des Großen, 1712–1786), im Jahre 1740, erreicht. Damals besaßen 176 jüdische Familien in Halberstadt 131 Häuser. Das war immer noch ein sehr günstiges Verhältnis von einem Haus pro 1 1/3 Familie, etwa im Vergleich zu Halle, wo 3½ Familien sich ein Haus teilen mußten. Nach dem repressiven Generalreglement Friedrichs des Großen von 1750 sollte gar nur jede fünfte jüdische Familie ein eigenes Haus besitzen dürfen.119
Für Halberstadt typisch war übrigens während der gesamten Zeit der Anwesenheit von Juden in der Stadt, dass es kein ausgesprochenes Ghetto gab, sondern „Juden und Christen wohnten[...] durchmischt und nutzten nach Besitzerwechseln die gleichen Gebäude“;120 allerdings war im Voigteibezirk121 die jüdische Konzentration hoch, und zwar waren stellenweise zwischen 70 Prozent (Judenstraße) und 50 Prozent (Seidenbeutel) der Häuser in jüdischem Besitz.122
In diesem Bereich befanden sich naturgemäß alle Immobilien der jüdischen Gemeinde und ebenso jene Häuser, die Berend Lehmann nacheinander oder gleichzeitig im Besitz hatte. Diese Häuser werden hier, um Missverständnisse zu vermeiden, mit Großbuchstaben von A bis X bezeichnet, die in einer Liste auf Seite 37 aufgeführt sind.
Lehmanns Anfänge in ‚Klein Venedig’: Bakenstraße 37, links
Im Gefolge von Auerbachs Geschichte wurde Berend Lehmann lange Zeit als geborener Halberstädter angesehen. Auerbach beruft sich auf die Erwähnung Juda Lehmann Halevys, des Vaters des Residenten, im Memorbuch: „Dieser überaus fromme und demüthige Mann beschäftigte sich hier [Hervorhebung: B.S.] stets mit Thorastudium und Wohlthätigkeit [...]“. Demnach nahm er an, dass schon der Vater aus Essen nach Halberstadt gekommen sei, wo dann auch die Geburt des Sohnes stattgefunden habe.
Demgegenüber stellte bereits 1913 der Essener Rabbiner Salomon Samuel fest, dass Juda Lehmann 1693 in Essen starb, wo seine Frau seit 1694 als Witwe geführt wurde.123
Wenn man nicht annehmen will, dass er vorher vorübergehend in Halberstadt gelebt hat – was sich zum Beispiel in der Judenliste von 1669 hätte niederschlagen müssen124 und was bei den strengen Vergleitungsbestimmungen unwahrscheinlich ist –, dann hat das Memorbuch eine Legende transportiert, oder Auerbach hat den Memorbuch-Eintrag missverstanden.
Judas Sohn, Berend Lehmann, ist jedenfalls erst seit 1687, und zwar durch Leipziger Messelisten, als Halberstädter Einwohner nachweisbar.125 Nach der üblicherweise etwa alle zehn Jahre stattfindenden Zählung der in Halberstadt wohnenden Juden lebte er 1688 mit seiner Frau Miriam, geborene Joel,126 zur Miete bei Moyses Levin „unterm Rathe“ (vgl. Bd. 2 Abb. 2 und Dok. 3). Das war auf jeden Fall im neueren jüdischen Siedlungsgebiet, der Voigtei. Er besaß noch keinen eigenen brandenburgischen Schutzbrief, sondern galt als Familienanhang seines Schwiegervaters Joel Alexander.127 Die Lehmanns hatten noch keine Kinder, und der bescheidene Haushalt kam ohne Dienstboten aus.128
Ein Jahr später ist er offenbar finanziell in der Lage, sich ein eigenes Haus zu bauen, und auf den Antrag für eine entsprechende Genehmigung wird von der kurfürstlichen Regierung ein „Decretum“ erlassen, nach dem er eine „wüste* Stelle zu bebauen“ habe.129 Das so 1690 entstandene Haus (Lehmann hat inzwischen einen eigenen Schutzbrief (vgl. Abb. 5 und 6) und arbeitet als Münzagent; [Dok. 4]) dürfte im Kern schon dasjenige gewesen sein, welches in der Judenhaustabelle von 1699 als „am waßer, ein Hauß unter des Ambtes der Majorey Jurisdiction gehörig“130 bezeichnet wird und in dem er bis an sein Lebensende gewohnt hat, nämlich auf der nördlichen Hälfte des Grundstücks Bakenstraße 37 (Häuserliste Buchstabe A). Es lag in der Tat am Wasser, nämlich zwischen den Wasserläufen Holtemme und ihrem Nebenflüsschen Tintelene, die damals noch offen durch die Unterstadt flossen (die Gegend unterhalb der Peterstreppe wurde deshalb noch lange Zeit volkstümlich ,Klein Venedig‘ genannt).
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Abb. 5 (links): Auf der Schutzjudenliste von 1690 erscheint Berend Lehmann (linke Spalte, 7. Eintrag) zum ersten Mal als Inhaber eines eigenen Brandenburgischen Schutzbriefes.
Abb. 6 (rechts): Blatt mit den deutschen und den hebräischen Namen der Halberstädter Schutzjuden, vermutlich die Vorlage der jüdischen Gemeindevorsteher für die offizielle preußische Schutzjudenliste von 1691, Lehmann an 2. Stelle.
Nach der erwähnten Darstellung Auerbachs ist ja der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. 1692 „auf das unter lauter Baracken hervorragende stattliche Wohnhaus des Bermann [das ist Berend Lehmann]“ an der Peterstreppe aufmerksam geworden.131
Aus den im vorigen Kapitel erwähnten Gründen kann man die rührende Auerbach-Anekdote unter ,Legenden’ verbuchen. Dass es schon zu so frühem Zeitpunkt in ,Klein Venedig’ ein „hervor-ragendes“, repräsentatives Steinhaus gegeben hat, dagegen spricht die Bemerkung in einem Dokument von 1698132, der Erwerb eines anderen Hauses werde ihm deshalb erlaubt, „weil sein jetziges, worin Er wohnet, zu klein“ sei. Wenn mit diesem „jetzigen“ Bakenstraße 37 links gemeint war, so müsste es zunächst recht klein und erst nach 1690 erheblich vergrößert worden sein. So legt es auch der Vermerk in der Judenliste von 1699 nahe, „Berendt Lehmann“ habe 2 Häuser (das zweite wäre „Pott“ [ M ] oder „Heister-2 [ L ]“)133 mit insgesamt (nur) 5 Stuben für sich selbst, seine Frau, 4 Kinder und 5 Personen „Gesinde“.134