Götz Renartz

Der Hypnotist Der Hase im Cafe


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erhebliche Depression aufgezeigt.

      Er hatte damals einen Verdacht entwickelt. Er hatte sich gefragt, ob nicht die acht Jahre früher stattgefundene Ehescheidung der Anlass für die Depressionen gewesen sein könnte. Obwohl die Patientin das abgestritten hatte.

      In der Gruppenpsychotherapie hatte er die Patientin gefragt, wie sie vermutlich leben würde, wenn sie die Depression hinter sich gelassen haben würde.

      Sie hatte allerlei Positives geschildert, doch ihm war aufgefallen, daß der natürlichste der zu erwartenden Wünsche einer attraktiven und erst achtundvierzig Jahre alten Frau gefehlt hatte. Nämlich der nach einer glücklichen Partnerschaft mit einem Mann.

      Er hatte sie mit dieser seiner Meinung konfrontiert und nicht mehr locker gelassen, als sie versuchte, die Bedeutung des Liebesund Sexuallebens für eine normale und gesunde Frau herunterzuspielen.

      Sie hatte sich der Logik seiner Argumentation nicht entziehen können und schließlich zugestimmt, daß auch ihr eine liebevolle, erotische und sexuelle Beziehung guttun würde.

      Dann hatte er sie aufgefordert, dies nicht nur intellektuell zuzugeben, sondern dies auch vor der Gruppe für sich zu bekennen.

      Nach einigem Zögern hatte sie sich dazu bereit gefunden. Die Art des Ausdrucks, die Körperhaltung dabei und vor allem die emotionslose Stimme hatte alles, was sie angeblich bekannte, zugleich in Frage gestellt.

      Diese Diskrepanz hatte er damals aufgegriffen, formuliert und die Patientin aufgefordert, mit einer passenden Stimme zu sprechen und sich so auszudrücken, daß offensichtlich werde, daß sie zu ihrer Aussage auch wirklich stehe.

      Dabei hatte sie erhebliche Probleme gezeigt. Schließlich hatte er sich auf den Ausdruck ihrer Stimme konzentriert und sie animiert, ihre Aussage mit immer kräftigerer Stimme zu wiederholen.

      Während er ihr Bemühen miterlebte, fragte er sich, weshalb sie diese so wichtige und gesunde Bekenntnis und Stellungnahme so sehr vermieden hatte und jetzt immer noch abschwächte.

      Es schien denkbar, daß sie mit ihrem depressiven Leiden unbewusst ihrem Ex-Ehemann Schuldgefühle bereiten wollte, weil dieser sie zugunsten einer jüngeren Frau verlassen hatte.

      Ihr depressives Leiden konnte aber ebenso unbewusst auch einer eigenen Bestrafung für das Scheitern ihrer Ehe dienen.

      Solchen Verdacht hatten auch die vorbehandelnden Fachleute schon gegenüber der Patientin geäußert. Was diese jedoch abgestritten hatte. Jedenfalls hatten diese psychodynamischen Interpretationen in der Psychotherapie der Patientin nicht weitergeholfen.

      So kam in ihm langsam, während er nicht locker ließ, die Patientin in ihrem Bemühen anzuleiten, zu persönlicher Echtheit in ihrer Stimme zu gelangen, eine neue Idee.

      Vielleicht, so hatte er vermutet, hatte sie ja wirklich die Trennung von ihrem Mann und das Scheitern ihrer Ehe akzeptiert und es ging gar nicht um eine „runtergeschluckte Wut“. Vielleicht ging es um die Angst, in einer neuen Beziehung wieder verletzt zu werden? Dann hätte die Depression die Funktion, der Patientin Sicherheit zu spenden. Sie vor einer neuen Enttäuschung zu schützen.

      Er hatte sich damals entschlossen, diese neue psychodynamische Hypothese auszuprobieren. Deshalb änderte er die Aussage der Patientin und forderte sie auf, mit aller Kraft und persönlicher Wahrheit auszurufen: „Auch ich brauche Liebe!“

      Als er dabei ihre Stimme schier versagen hörte, wußte er, daß er auf dem richtigen Weg war.

      Unerbittlich hatte er mit ihr über eineinhalb Stunden geübt, ihre Kraft und Wahrheit in den stimmlichen Ausdruck zu bringen.

      Urplötzlich hatte dann die Patientin so reagiert, wie er das viel später bei Psychotherapien mit der Urschreimethode von Arthur Janow erlebt hatte, in der die Patienten in ihren tiefsten seelischen Schmerz durchbrechen sollten, um sich ihn von der Seele zu schreien und zu ihren echten Gefühlen zu stehen.

      Mit einer fast grauenvollen Sehnsucht hatte die Patientin zu schreien begonnen: „Ja! Ja! Ich brauche Liebe! Liebe! Ich brauche Liebe!“

      Sie war zu ihrer existentiellen Wahrheit durchgebrochen.

      Ihn hatte dieser Schrei wie ein Faustschlag in den Solarplexus getroffen.

      Es war ein Schmerz, der sich kalt anfühlte. Und ihm war auch ein eiskalter Schweiß ausgebrochen. Auf der Verstandesebene war er ganz ruhig gewesen. Er hatte die Situation emotional und sich selbst unter Kontrolle gehabt. Aber er war bis in sein tiefstes Inneres erschüttert worden.

      Ihm war sofort klar gewesen, diese Frau hatte nicht nur ihre existenzielle Wahrheit ausgedrückt, sondern alle Anwesenden emotional entblößt. Auch sie alle waren von dieser Wahrheit betroffen und getroffen!

      Er sah eine junge Frau wie ohnmächtig von ihrem Stuhl sinken. Die beiden Nachbarinnen fingen sie auf und führten sie raus. Sie weinten.

      Drei oder vier Personen waren aufgesprungen und verließen kreidebleich den Raum.

      Einige saßen wie erstarrt.

      Der Oberarzt ihm gegenüber zitterte am ganzen Köper. In seinen Augen stand blanke Angst.

      Er aber hatte die Frau weiter schreien lassen.

      Immer wieder wiederholte sie ihren Schrei, dann brach sie in heftiges Schluchzen aus.

      Er war zu ihr gegangen und hatte sie in den Arm genommen. Zu sagen hatte er nichts gewusst.

      Sie hatten die Gruppensitzung aufgelöst.

      Der Oberarzt war kommentarlos verschwunden. Die meisten Patienten waren auf ihr Zimmer gegangen. Später saßen sie nur flüsternd beim Mittagessen.

      Interessanter Weise taten dann alle Beteiligten am nächsten Tag, als sei nichts geschehen.

      Die Patientin, die er zunächst unter eine lückenlose Beobachtung durch die Schwestern und Pfleger gestellt hatte, kam am dritten Tag nach der Gruppentherapiesitzung zu ihm, um sich zu bedanken und um ihre Entlassung zu bitten.

      Sie wurde am nächsten Tag depressionsfrei entlassen. Ein Vierteljahr später hatte sie, zusammen mit ihrem neuen Freund, ihn und die Station als strahlende und glückliche Frau besucht.

      Er aber hatte für sich eines der größten Geheimnisse der Psychiatrie entdeckt.

      Nicht nur, wie existenziell das Bedürfnis nach Liebe die Menschen erfüllte. Sondern auch, daß es meist das Positive ist, das die Menschen am meisten fürchten.

      Er hatte begriffen, daß die meisten Verhaltensstörungen und psychischen Symptome und Erkrankungen der Abwehr des Positiven im Leben dienten.

      Es war offensichtlich leichter, sich selbst zu problematisieren oder sich auf Probleme statt auf Lösungen zu fixieren, als sich zu seinen Gefühlen und Bedürfnissen zu bekennen und diese zu leben. Besonders, wenn diese Lösungen oder Gefühle von anderen Menschen nicht akzeptiert wurden.

      Und er fragte sich, ob er sich selbst nicht auf diesem Abweg befinde, weil er sich seit der Trennung von Aletta Lücke keiner Frau mehr genähert hatte.

      Das Wesen von Hypnose

      An diesem Morgen war etwas anders. Er spürte es, als er aufwachte. Aber er wußte zunächst nicht, was sich verändert hatte.

      Als er sich entschloß aufzustehen, erkannte er, daß das Jucken an seiner Augenbraue aufgehört hatte.

      Im Spiegel sah er dann, daß die Warze genau so groß war wie zuvor, dieses entzündliche Rot jedoch vergangen war. Die Warze hatte jetzt die Farbe seiner übrigen Haut.

      Nach der Morgentoilette setzte er die Reihe seiner hypnotischen Übungen fort und brach in das Büro auf.

      Frau Herr war schon anwesend und grüßte ihn freundlich.

      Er erwiderte ihren Gruß und fragte, ob Frau Zappeck schon da sei.

      „Sie wartet schon in Ihrem Zimmer. Ich habe ihr einen Kaffee angeboten.“

      Er nickte