Die Bemerkung war offensichtlich als Provokation gemeint, Beyer ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen.
„Ja, Sie haben recht, es gibt tatsächlich Führungskräfte, selbst im Vorstand großer Aktiengesellschaften, die nicht wissen, was die Uhr geschlagen hat. Denen muss man dann helfen, die kritischen Zeiten zu erkennen.“
„Wissen Sie denn immer wie spät es ist? Dann sind Sie sicher einer von diesen Super-Gurus?“
„Nein, aber manchmal sehen Externe einige Dinge klarer, weil sie mehr Distanz haben und nicht durch die lange Zeit im Unternehmen betriebsblind geworden sind.“
„Ich kann das mit der Betriebsblindheit nicht mehr hören, jeder Berater erzählt mir dasselbe.“
„Wenn ich es richtig verstanden habe, dann sind Sie Rechtsanwalt?“
„Ja, seit fast 40 Jahren!“
„Aber dann sind Sie doch auch eine Art Berater?“
„Das kann man nicht vergleichen, wir verhelfen unseren Mandanten zu ihrem Recht.“
„Und wir Berater zu ihrem beruflichen Erfolg, das ist der Unterschied“, sagte Beyer mit gezügelter Aggressivität. Aber er versuchte sie zu unterdrücken, schließlich wollte er den bisher so harmonisch verlaufenden Abend nicht gefährden.
Pauli vermittelte zwischen den beiden, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Er kannte seinen Anwalt nur zu gut und wusste, wie zynisch er werden konnte, wenn er sich bedrängt fühlte.
„Es ist wirklich schlimm, wie schlecht manche Konzerne geführt werden. Denken Sie beispielsweise an unser hoch gepriesenes Vorzeigeunternehmen im Ländle, unser Muster-Autobauer. Der jetzige Vorstandsvorsitzende ist ein Unglück für das Unternehmen. Auf unserer letzten Beiratssitzung berichtete Professor Bertram über eine Aufsichtsratssitzung bei Daimler, in dem der Vorsitzende in aller Offenheit wegen seiner Firmen- und Modellpolitik kritisiert worden war. Aber dieser Mann ist gegenüber anderen Meinungen völlig unzugänglich, hält sich für Deutschlands Vordenker Nummer eins und wirtschaftet den Konzern an den Rand des Abgrunds. Haben Sie mal für Mercedes gearbeitet?“
„Ja, wir haben eine Logistik-Studie im Fahrzeug-Bereich gemacht. Es ging dabei um die Verbesserung des Lieferservice insbesondere im Ersatzteilwesen.“
„Interessant, wir könnten sicher auch so eine Studie gebrauchen, ich höre von unseren Kunden immer wieder Klagen über fehlerhafte und unvollständige Lieferungen“, sagte Pauli.
„Wenn wir Ihnen helfen können, freuen wir uns.“
„Sie können mir ja mal Ihre Unterlagen schicken, am besten direkt an mich persönlich und vertraulich. Hier ist meine Geschäftskarte mit meiner Privatanschrift in Pforzheim. Ich will keine Unruhe im Unternehmen. Sie wissen ja, ein Berater bringt immer Besorgnis bei den Mitarbeitern mit sich. Wenn mein Bruder Fritz hört, dass ich einen Berater ins Haus hole, sieht der gleich rot.“
„Ihr Bruder ist auch in Ihrem Unternehmen beschäftigt?“
„Ja, beschäftigt ist der richtige Ausdruck, die Frage ist nur, was dabei herauskommt! Er leitet unsere größte Tochtergesellschaft.“
Bayer las die Karte aufmerksam. Dr. Leopold Pauli war geschäftsführender Gesellschafter der Pauli GmbH & Co, KG mit Sitz in Pforzheim, sein Bruder Fritz war offenbar von ihm abhängig, möglicherweise aber auch umgekehrt. Beyer würde sich später Notizen über das Gespräch machen, wie er es bei ähnlichen Gelegenheiten immer tat. Man konnte nie wissen, wozu man die Information brauchen konnte. Der erste Kontakt war hergestellt, das weitere musste man abwarten. Er war sich sicher, dass früher oder später eine berufliche Verbindung hergestellt werden würde. Aber beunruhigend war dieser Rechtsanwalt Johannes. Er wollte offensichtlich den Berater aus einer engeren geschäftlichen Beziehung mit Pauli heraushalten. Aber warum? In welcher Beziehung standen die beiden miteinander? Es gab sicher eine Form der gegenseitigen Abhängigkeit.
Madame Berliet unterbrach das Gespräch und erkundigte sich nach den Dessertwünschen: „Vous désierez un dessert? Nous avons ce soir un Mousse au Chocolat ou un Crème Caramel, excellants les deux. “ Die Entscheidung fiel schnell. Niemand konnte bei Mousse au Chocolat widerstehen. „Es ist sicher nicht vernünftig, aber wer kann schon immer vernünftig sein“, meinte Beyer. „Nun, Sie haben doch keine Gewichtsprobleme, was soll ich da sagen?“, seufzte Pauli.
„Es sind nicht der Fette allein, es sind die Cholesterine, die verursachen die Probleme“, mischte sich Johannes ein.
„Sie können ja morgen am Strand Joggen, dann ist wieder alles in Ordnung.“
„Hoffentlich.“
Der Abend wurde mit einem Kaffee und einem Cognac beschlossen. Dr. Pauli ließ sich die Bezahlung der Rechnung nicht nehmen. „Mit Dank für den schönen Abend und ihre Einladung in Ihrem Hause“ sagte er.“
„Der Dank ist auf unserer Seite“, sagte Beyer.
Man verabschiedete sich aufs Herzlichste.
„Vergessen Sie nicht, Ihre Unterlagen zu schicken“, sagte Pauli. „Mache ich auf jeden Fall. Auf Wiedersehen und guten Flug.“
Ein Taxi war gerufen worden und fuhr die Herren nach Fréjus zurück.
Arnim und Elinor verbrachten noch ein paar traumhafte Tage an der Côte mit Schwimmen und Spaziergängen im Park von St. Tropez. Sie folgten immer wieder gern dem felsigen Küstenweg, auf dem man bis nach Marseille gehen konnte. Aber sie verweilten am Grab des Dichters Olivier: ‘Et respice finem‘, war auf dem Stein gemeißelt.
„Sehr sinnreich“, sagte Arnim.
„Was heißt das?“, ich war nie besonders gut in Latein.
„Es ist der Schluss eines Zitats, welches aus der mittelalterlichen Sammlung Gesta Romanum stammt. Insgesamt heißt es ins Deutsche übertragen: Was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende.“
„Das sollten wir immer tun, jetzt zum Beispiel, indem wir zurückkehren.“
Es war warm und sonnig, das Meer tiefblau, der Eukalyptus duftete und sie entspannten sich prächtig. An nächsten Tag fuhren sie zur Chartreuse de la Verne, einem alten Kloster oben im Maure Gebirge, um von dort Richtung La Mole zu wandern. Sie genossen von dort oben einen unvergleichlichen Blick auf die Bucht von St. Tropez und bis hinüber zu den Hyères Inseln. Viel zu schnell gingen die unbeschwerten Tage vorüber und sie mussten wieder zurück nach Hause fliegen. Diesmal verlief der Flug angenehm und problemlos.
„Ich bin mal gespannt, ob wir den Pauli wieder treffen werden.“
Beyer dachte nach: „Eine gemeinsame Segeltour wäre sicher interessant. Vielleicht ergibt sich später mal ein Beratungsauftrag, man kann nie wissen.“
„Dann wirst du aber vorsichtig sein müssen, der Pauli scheint mir eine zwiespältige Persönlichkeit zu sein,“ gab Elinor zu bedenken, „freundlich jovial auf der einen Seite und radikal autoritär auf der anderen. So wie er mit seinen Söhnen sprach. Auf jeden Fall ist er schwer zu durchschauen, mit dem würde ich keine Segeltour machen wollen.“
„Traust du ihm nicht?“
„Doch, eigentlich schon. Ich finde