Thomas Hölscher

Der Pferdestricker


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      Ich will dort nicht als Schwuler gelten. Ein paar türkische Jugendliche dort sind ziemlich unerträglich.

      14.9.2000

      Es ist verblüffend, wie ohne allen Argwohn dieses Mädchen ist. Es macht mir mittlerweile einen unglaublichen Spaß, mir Geschichten auszudenken, die ich ihr erzählen kann. Nur müssen wir von diesem verdammten Spielplatz weg; diese Janitscharenhorden, die dort herumlungern, sind einfach ekelhaft. Ich hasse diese unzivilisierte Bande jeden Tag mehr.

      Mittlerweile habe ich der Kleinen ein Foto gezeigt, und sie fand das Tier von der Weide nur süß. Natürlich tut sie das, weil es mittlerweile die einzig mögliche Sichtweise auf diese Viecher ist. Sie sind süß, weil eine Herde bekloppter Zicken es so bestimmt. Das ist einfach ekelhaft! Die ganze Gesellschaft lässt sich von kleinen Blagen kastrieren!

      Ich habe der Kleinen gesagt, dass es aber ein böses Tier ist. Sie wollte es natürlich kaum glauben. Ich muss es ihr möglichst bald zeigen.

      Mittlerweile macht es mich schon geil, wenn sie das Tier süß findet und ich schon weiß, was Jonas mit ihm vorhat. (Nur die maximale Differenzierung bringt die maximale Befriedigung.)

      15.9.2000

      Heute ließ es sich nicht vermeiden, dass ich mich kurz an der Uni sehen ließ. Und letztendlich war es gut so. Mehr als das! (Auf jeden Fall war alles kein Zufall mehr. Es gibt gar keine Zufälle.)

      Ich habe diesen Volkspoesie-Heini wieder getroffen, und obschon ich mich zuerst verstecken wollte, haben wir letztlich über zwei Stunden lang in der Cafete gesessen und am Ende hat er mir die Geschichte vom Pferdestricker erzählt. Genauer gesagt: die Sage vom Pferdestricker. (Oder habe ich ihn womöglich dazu gebracht, mir diese Geschichte zu erzählen? Ihn gezwungen, sich diese Geschichte auszudenken?)

      Es ist die Geschichte der letzten Wildpferde im Emscherbruch. In regelmäßigen Abständen werden sie gefangen, um dem Menschen zu dienen. Und ein Kerl, eben der Pferdestricker, tut sich dabei besonders hervor, weil auch die wildesten Tiere nicht in der Lage sind, ihm Widerstand zu leisten. Er besiegt sie alle.

      Und macht mit ihnen, was er will.

      18.9.2000

      Heute habe ich der Kleinen endlich die Geschichte vom Pferdestricker erzählen können. Nur dass die Wildpferde nicht gefangen werden, um zu arbeiten, sondern weil sie böse sind. Böse und gefährlich. Sie bringen Verderben über die Menschen, wenn man sie nicht bekämpft. Vor allem nehmen sie kleinen Kindern ihre nächsten Angehörigen. Das stimmt natürlich nicht ganz mit der Geschichte überein, aber wenn es hilft ... Ich habe ihr noch einmal das Bild gezeigt, und ich hatte das Gefühl, dass sie mir schon mehr glaubt als noch vor ein paar Tagen. Ob sie das alles versteht, weiß ich natürlich nicht. Aber sie wird ja schon sehen!

      Dass ihr dieses Vieh mit Sicherheit noch im Traum begegnen wird, habe ich ihr auch erzählt. Und vor allem habe ich ihr eingehämmert, dass sie mit niemandem über dieses Tier reden darf, bevor der Pferdestricker es unschädlich gemacht hat, weil es ansonsten sein verderbliches Werk sofort beginnen und sie ihre Mutter und ihre Oma niemals mehr wiedersehen wird. (Auf Sachen kommt man! Vielleicht sollte ich selber mal anfangen, eine zeitgemäße Version des Pferdestrickers zu schreiben!)

      Wie ich gehofft hatte, war sie völlig schockiert und hat alles versprochen. Ob ich den Pferdestricker schon einmal gesehen habe, wollte sie wissen.

      Nun will sie ihn auch noch sehen!

      19.9.2000

      Heute habe ich ihr ein Bild vom Pferdestricker gezeigt. Es ist Jonas, der mit weit gespreizten Beinen und mit dem Rücken zur Kamera steht. Sein Kopf ist nicht zu sehen, und ich habe ihr gesagt, dass niemand das Gesicht des Pferdestrickers sehen dürfe, bevor er seine schwierige Aufgabe erfüllt hat. Erst danach werde sie ihn sehen. Und das stimmt ja auch.

      Mehr kann ich ihr im Augenblick nicht zeigen! Es ist der Ausschnitt eines Bildes, das ich vor kurzem in unserem Garten aufgenommen habe, als Mutter zur Arbeit war. Ansonsten hätte ich Jonas in unserem Garten doch gar nicht fotografieren können! Ich hatte ihn gebeten, sich mit dem Rücken zur Kamera und mit in die Hüften gestemmten Armen von mir fotografieren zu lassen, ein richtiges Machofoto halt. Ihn darum zu bitten, ist mir schwer genug gefallen, aber ich wollte unbedingt ein Bild von seinem geilen Arsch haben.

      Nun glaubt sie mir, dass Jonas mit dem üblen Vieh fertig wird und auch sie errettet! Ihre Reaktion macht mich geil. Es gibt keinen größeren Anreiz für das Erfinden von Geschichten als das Geilsein.

      20.9.2000

      Die kleine Ziege kommt nicht mehr! Heute war sie schon zum zweiten Mal nicht an unserem Treffpunkt. Hoffentlich hat sie niemandem etwas erzählt. Ich muss vorsichtig sein. Ich bin schon Stunden vor unserer Verabredung in der Gegend und inspiziere genau die Umgebung.

      21.9.2000

      Sie ist wieder da. Sie war für ein paar Tage bei ihrer anderen Oma, weil ihre Mutter im Krankenhaus lag. Dieses ganze Brimborium ringsum ist so entsetzlich banal! Sie hat mir hoch und heilig versprochen, dass sie niemandem etwas erzählt hat von mir und unserem Geheimnis. Ich glaube ihr. Der Vorteil von Kindern ist, dass sie nicht lügen können, weil man es sofort merken würde. Trotzdem muss ich mich beeilen. Ich habe ihr noch einmal das Bild des Tieres gezeigt und gesagt, dass es nun so weit ist. ...

      24.9.2000

      In meinem Kopf dreht sich alles. Wie in einem Karussell, das sich stets schneller dreht und droht, in einem schrecklichen Chaos zusammenzustürzen. Es ist, als wenn man die Zeit anhalten muss.

      Die Zeit läuft einfach zu schnell, alles wird lächerlich wie in einem Charlie-Chaplin-Film, und man bekommt Kopfschmerzen. So hat gar nichts einen Sinn.

      Ich lebe nur noch von Bildern, oder besser gesagt: von den Bildern aus Bildern. Es fehlt der begründende Überbau, und dann verliert alles auf Dauer seine Würde.

      Spätestens seit heute ist mir überdeutlich, dass jeder Mensch in seinem Leben nur ein einziges Geheimnis lösen kann; dass er überhaupt nur existiert, weil ihm von irgendeiner Instanz der Auftrag zur Enthüllung und vielleicht sogar Lösung dieses einen Problems erteilt wurde. Dass die meisten Menschen sich zeit ihres Lebens nicht einmal dieses Problems bewusst werden, das spricht nicht dagegen; es spricht nur für die Dummheit der meisten Menschen und die grauenhafte Ignoranz und Oberflächlichkeit unserer Zeit.

      Das Wort Enthüllung ist wortwörtlich zu nehmen: Die Wirklichkeit ist ein chaotisches Nebeneinander von Erscheinungen, die man vom wahnsinnigen Karussell unserer Zeit reißen muss, um sie zu ordnen und zu sehen als das, was sie sind: Abbilder des Ewigen oder Schrott.

      Die Realität ist der Steinbruch dieser Arbeit; außerhalb der Realität gibt es nichts. Die Realität als solche ist aber wertlos; sie muss geordnet werden. In das Ewige, die Träume davon, den Schrott.

      Die Erfüllung dieser Aufgabe rechtfertigt den Einsatz aller Mittel.

      Aller. Es wäre nun leicht zu sagen, sie rechtfertige auch den Mord. Aber dieses Wort bewertet, und hier geht es nicht um Wertungen. Der Tod des alten Mannes war nicht geplant, war aber insofern notwendig, weil er sich der Aufgabe in den Weg gestellt hat, die getan werden muss. Muss!!!! Die Zeit zur Erledigung dieser Aufgabe ist begrenzt. Ich habe schon viel zu lange gewartet und bin ungeduldig. Der Tod des Alten war auch ein Startsignal.

      Ich hoffe nur, er hat keine weiteren Aufzeichnungen hinterlassen. Im Prinzip wären sie wertlos, das Ewige lässt sich nicht in Sprache fassen, nur in Bilder. In wenige Bilder. Und diese Bilder sehen zu können, setzt den Seher voraus, nicht irgendeinen x-beliebigen Hanswurst wie diesen Alten, der über das, was er gesehen hat, lediglich banale Notizen für seine Anzeige bei der Polizei machen kann. (Und doch könnten Aufzeichnungen des Alten lästig werden, vielleicht sogar alles zunichte machen, weil die Dummheit der Menschen sie an die Sprache glauben lässt, nicht an die Bilder.)

      Nur eines noch: Ich habe endgültig erkannt, dass ich nicht die handelnde Person sein kann. Ich erfinde die Geschichten, und damit bin ich auch die einzige Person, die weiß, dass sie möglicherweise nicht stimmen. Erst wenn ich andere dazu bringe, die handelnden Personen meiner Geschichten zu