der größer ist als ich. Größer auch als Jonas, der ja selten mehr sein kann als ein Instrument. Als Mittel zum Zweck.
Aber ich bin zuversichtlich: Die Realität hält fast zu viel bereit! Bis jetzt war ich nur zu feige. Das wird sich von nun an ändern. Ich muss mir noch über meine neue Rolle mehr Klarheit verschaffen.
PS: Der Tod der Kleinen war geplant. Und weil ich nicht will, dass wie bei einem x-beliebigen Triebtäter alles reduziert wird auf die aus Angst gegebene Notwendigkeit zur Beseitigung eines Zeugen, bezeichne ich sie von jetzt an als Opfer.
Ein Opfer für etwas viel Größeres.
Genau wie das Tier.
Genau wie Klaus.
2.10.2000
Der Tod des Alten wirbelt viel Staub auf. Die Zeitungen stehen voll davon. Anscheinend war er im Ruhrgebiet eine ziemlich bekannte Figur. Ich habe das nicht gewusst, und so etwas ist auch völlig unwichtig. Die Rolle, die wir in einer Gesellschaft einnehmen, hat eben fast nie etwas zu tun mit der Rolle, die wir im wirklichen Leben einnehmen.
Das Tier interessiert anscheinend niemanden, nur mich. Aber im Augenblick muss ich aufpassen. Ich will dort nicht auffallen.
Jonas habe ich seit der besagten Nacht nicht mehr gesehen. Einerseits ist das gut, weil wir wahrscheinlich beide im Augenblick etwas Distanz brauchen; andererseits ist es schlecht, weil ich ihn dann nicht steuern kann und somit auch nicht weiß, was er gerade macht.
Das Schlimme an Jonas ist, dass man mit ihm nicht wirklich reden kann. Er überlegt keine Sekunde, er tut die Dinge einfach. Bei mir ist es genau umgekehrt: Ich überlege viel zu lange und fühle mich letztlich oft handlungsunfähig. Jonas und ich zusammen in einer Person wären wirklich der ideale Mensch!
Aber schon wegen der polizeilichen Aktivitäten in den letzten Tagen will ich Jonas im Augenblick erst mal außen vor lassen.
22.10.2000
Ich weiß nicht, wo ich ihn suchen soll.
Manchmal denke ich, ich hätte Angst wegen des ganzen Medienrummels um den Alten, aber das ist Unsinn. Ich habe keine Angst. Wovor auch? Es ist einfach diese Leere, die ich nicht ertragen kann. Es muss etwas passieren, aber ich weiß nicht, wie ich das arrangieren soll. Dafür träume ich fast jede Nacht. Manchmal möchte ich nicht mehr wach werden.
24.3.2001
In den letzten Wochen war ich des öfteren auf dem Fußballplatz in Gelsenkirchen. Ich weiß selber nicht, warum in Gelsenkirchen; es ist vor allem so, dass ich hier auf gar keinen Fall gesehen werden möchte. Mir gefällt es dort. Nicht der Ort. Mir gefallen die Männer. Und auf gar keinen Fall bin ich schwul, wenn ich sage, dass mir diese Männer gefallen. Das alles hat mit dem karnevalistischen Treiben in der schwulen Subkultur überhaupt nichts zu tun. Überhaupt nichts!
Ich suche nach Handelnden für meine Geschichte.
‚Meine Geschichte’ ist falsch. Für die Geschichte.
Oder nennen wir es doch gleich Mythos.
15.4.2001
In der letzten Zeit träume ich wieder, und ich weiß, dass ich diese Träume nicht mehr lange werde aushalten können. Nicht weil diese Träume fürchterlich sind, sondern weil sie grandios, letztlich aber so unendlich weit entfernt scheinen von der ekeligen Realität, in der ich mich im Augenblick befinde. In dieser Realität scheinen die Träume nichts zu sein als belanglose Schatten, die man wegwischt, wenn man erwacht. Wenn man sie zu interpretieren versteht, sind sie zwar als solche schon großartig, aber letztendlich doch wertlos: Sie müssen verwirklicht werden.
Ich bin durch die Zwischenprüfung gefallen, und der Rechtfertigungsdruck gegenüber meiner Umgebung treibt mich in den Wahnsinn! Ich werde überhaupt nicht mehr zur Uni gehen. Das ist nur Zeitverschwendung und hält mich von dem ab, was ich tun muss. Außerdem empfinde ich eine riesengroße Verachtung für Menschen, die so ganz offensichtlich die ihnen im Leben gestellte Aufgabe in der Beschäftigung mit dem Schwachsinn suchen, den ihnen eine Uni präsentiert. Noch mehr verachte ich nur noch die Menschen, die den Sinn des Lebens dort auch noch finden.
Ich werde dort auf gar keinen Fall mehr hingehen, für meine Umgebung aber so tun, als ginge ich dort noch hin.
Gerade deshalb brauche ich eine eigene Wohnung. Dieses schamlose Behütetsein durch die Eltern macht mich krank und aggressiv.
29.4.2001
Wie weit die Träume von der eigenen Realität entfernt sind, das bestimmt man doch nur selber. Unsere Träume sind nichts anderes als die Bauanleitung, um die einzelnen Bausteine der Realität umzuformen in ein Bild des Ewigen. (Warum klingt die Wahrheit schon wieder so pathetisch?)
Wenn ich sonntags zum Fußballplatz nach Gelsenkirchen fahre, muss ich mittlerweile aufpassen. Ich will nicht, dass ich irgend jemandem auffalle und sie mich in irgendeine ihrer Schubladen stecken können. Ich achte sehr darauf, immer mit anderer Kleidung dorthin zu gehen.
Auf gar keinen Fall sollen sie wissen, dass ich in Wahrheit derjenige bin, der die Strippen zieht und Regie führt.
Ich habe mir bereits einige der jungen Kerle genauer angesehen. Man sieht es einem Mann sofort an, ob er der Pferdestricker ist oder nicht. Es gibt dort einige Pferdestricker.
Der Rest liegt jetzt an mir. Das ist nur noch ein logistisches Problem. Ich bin bereit!
6.5.2001
Ich habe es gemacht! Es war noch einfacher, als ich gedacht hatte. Das Pferd stand auf einer Weide in der Nähe des Platzes und ich konnte es, ohne von irgend jemandem gesehen zu werden, nach dem Spiel bis zum Eingang der Umkleiden führen. In der Lokalausgabe der WAZ hat sogar ein kleiner Artikel darüber gestanden. (Es kam mir allerdings so vor, als habe der Journalist das alles nicht wirklich ernst genommen. Das hat mich gestört. Aber was will man von solchen Leuten schon erwarten?)
8.5.2001
Ich bin froh, dass ich es getan habe, aber es war letztlich sehr unbefriedigend. Es war viel Arbeit, nur mit meinem Traum hatte es wenig zu tun, was in der Zeitung stand. Ich möchte nicht als Pausenclown in der Zeitung stehen.
19.5.2001
Noch immer gehen mir die Bilder vom Fußballplatz nicht aus dem Kopf. Mich stört das, weil ich überhaupt nicht weiß, was dort passiert ist, ob überhaupt irgendetwas passiert ist. Und doch fesseln mich die Bilder in meinem Kopf. Und dann stelle ich mir vor, wie die jungen Kerle völlig verschwitzt in die Kabine gekommen sind und das Tier entdeckt haben. Dass sie sich wie eine Herde marodierender Landsknechte einen Spaß daraus gemacht haben, es nicht entkommen zu lassen, es letztlich mit in den Duschraum zu nehmen, um sich dort splitternackt auf dessen Rücken zu setzen. So muss es gewesen sein. Es muss einfach so gewesen sein, und natürlich kann so etwas nicht in der Zeitung stehen. Manchmal muss ich mehrmals in der Nacht onanieren und es macht mich der Gedanke wahnsinnig, dass ich nicht dabei war. Ausgerechnet ich war nicht dabei. Es ist ganz unerträglich.
Es ist so erniedrigend, ein einsamer kleiner Wichser zu sein, nur weil man nicht genau weiß, was passiert ist. Nur wenn man die Realität selber in die Hand nimmt und kontrollieren kann, ist man kein kleiner Wichser mehr.
1.7.2001
Ich habe eine eigene Wohnung. Und neue Probleme: Die Finanzen. Die Eltern wollen mir noch zwei Semester Geld geben und haben mich vor die Alternative gestellt: Auto oder Wohnung. Also habe ich nun keinen Wagen mehr, und das ist unerträglich. Es klingt natürlich respektlos und undankbar, aber ich finde es zum Kotzen, wenn erwachsene Menschen ihre zwei Kinder zum Sinn ihres Lebens gemacht haben.
Ich brauche mehr Geld. Ich könnte Ilona fragen, aber ich habe Angst, dass sie dumme Fragen stellt.
12.8.2001
Eine eigene Wohnung ist mit Geld nicht zu bezahlen! Endlich kann ich tun und lassen, was ich will, ohne dass ich permanent überwacht werde.
Oft sitze ich den ganzen Tag bis tief in die Nacht vor dem Computer. Als ich mir vor ein paar Tagen bei Saturn ein Fotoprogramm gekauft habe, habe ich eine digitale Spiegelreflexkamera