Stefan G. Rohr

Das geliehene Glück des Samuel Goldman


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Spannung. Während John etwas kleiner, sehr kräftig, untersetzt und bereits schon eine Halbglatze hatte, war sein nur fünf Jahre jüngerer Bruder äußerlich geeignet, als Sohn seines Bruders durchzugehen. Maurice, war einen Kopf größer, schlank und hatte volle schwarze Haare. Seine indianischen Wurzeln waren unübersehbar, und sein gutes Aussehen hätte durchaus für eine vielversprechende Karriere in Hollywood gereicht.

      „Mike war vor einer Stunde bei mir“, begann John und ein leichter Unterton der Besorgnis schien hindurch. „Es ist zwar weiterhin alles gut, doch Mike meint, dass sich der Teilnehmerzuwachs abzuschwächen beginnt. Nur leicht, ok! Aber es wäre nicht auszuschließen, dass sich die Kurve vielleicht sogar nach Unten bewegt … irgendwann.“ John blieb nun stehen und schaute seinem Bruder direkt ins Gesicht.

      Maurice hatte aufmerksam zugehört. „Mike hatte bisher immer ein gutes Gespür und seine Zahlen waren stets ein Volltreffer. Wir sollten das also nicht auf die leichte Schulter nehmen. Hat er denn Erklärungen für die Ursachen?“

      John setzte sich nun neben seinen Bruder. „Die hat er. Und – das einmal vorweggenommen – diese sind für mich absolut einleuchtend. Wir haben zwar ein sehr gutes Marketing durchgesetzt, die Werbung war teuer aber jeden Cent wert, inzwischen aber, wie soll ich sagen, haben sich die Leute daran gewöhnt. Es fehlt der Kick, etwas Neues, etwas Besonderes.“

      „Wenn wir jetzt auf der Stelle treten würden, vielleicht auch nur leicht sinken, wäre das gar nicht gut.“ Maurice klang jetzt auch besorgt. „Unsere Partner würden uns den Geldhahn zudrehen, ehe wir bis Drei gezählt haben, und allein, ohne Fremdkapital, mit unseren bisher gemachten Gewinnen, würden wir nicht allzu weit kommen. Und wir sollten gut aufpassen: Wenn die Zahlen von Mike bekannt werden, könnte sehr schnell Nervosität entstehen. Das wäre dann eine ziemlich beschissene Sache.“

      John fing an, seinen kahlen Schädel zu kratzen. „Genau deswegen mache ich mir erste Sorgen.“ ergänzte er und blickte Maurice weiter an. „Gegenwärtig haben wir noch Zeit und Gelegenheit, uns etwas einfallen zu lassen. Die Uhr tickt aber. Ich will zwar nichts beschreien, aber ich befürchte, dass wir einen ordentlichen Kick benötigen, um nicht in absehbarer Zeit nach unten durchgereicht zu werden.“

      Maurice nickte, fand aber auch ein kleines Lächeln wieder. „Wir sollten heute aber noch nicht so schwarzmalen.“ Maurice war eben stets der Optimist unter ihnen. „Klar, wenn wir nicht weiter wachsen, werden es die Gewinnquoten und Jackpots auch nicht können. Das ließe dann auch nicht das Halten unserer Position zu, vom Ausbau einmal ganz abgesehen. Doch soweit ist es ja noch nicht. Wir werden uns etwas einfallen lassen. Du, Mike und ich. Wir werden nicht zusehen, wie unser Baby abschmiert. Hat Mike schon Ideen oder Vorschläge?“

      John stand auf, es war fast alles gesagt und Maurice hatte Recht. „Mike wird uns in aller Kürze seine Vorschläge präsentieren. Bisher hatten seine Marketing- und Werbeideen immer Klasse. Warten wir ab, was er uns präsentieren wird.“

      Die Brüder nickten einander zu und Maurice machte sich auf den Weg in sein Büro. Heute war wieder Ziehung und an diesen Tagen war stets nur wenig Zeit für anderes. Gleich würde auch der Aufsichtsbeamte und der Notar kommen um die Roulettes und die Anlage zu begutachten sowie ihre Teststichproben durchzuführen. Das war ein festgelegter Ablauf, mit einem Wust an Dokumenten und Unterschriften.

      Nach dieser Ziehung wird es irgendwo in Amerika wieder mindestens einen neuen Millionär geben. Es waren an diesem Spieltag 4,5 Millionen Dollar. Nicht der Rekord von SevenDollies, aber schon ein stolzes Sümmchen und die Teilnehmerzahl waren dementsprechend hoch. Und am Tag darauf, wie immer, werden die Gebrüder Skinner dem glücklichen Gewinner den Scheck überreichen, mit Fototermin, bei dieser Summe allerdings ohne TV-Team. Die Fernsehanstalten wollten schließlich nur Sensationen, keine Peanuts. Maurice liebte diese Augenblicke dennoch, John dagegen fand sie lästig, denn sie kosteten ihn stets einen Tag seiner Arbeit.

      Kapitel 4

      Fast ununterbrochen hatte sein Telefon bereits ab fünf Uhr morgens geklingelt. Dann zog Sam entnervt das Kabel aus der Dose und hatte endlich Ruhe. Die Anzahl der Anrufe hatte er schon nicht mehr zählen können, und es war immer das Gleiche: Reporter an Reporter jaulten durch den Hörer und wollten ihm einen Interviewtermin abringen. Anfänglich, er war immer noch übermüdet, hatte Sam höflich aber bestimmt abgelehnt, dann um Nachsicht geworben, ihn doch wenigstens ein paar Tage in Ruhe zu lassen. Und überhaupt, es wäre ihm wirklich lieber, dass nicht so viel Wind um diese Sache gemacht werden würde. Doch mit jedem weiteren Anruf wurde er unfreundlicher. Zuletzt hob er den Hörer nur noch ab und legte gleich wieder auf. Das aber half auch nichts, und so entschied er sich, das Kabel zu ziehen, um wenigstens ungestört frühstücken und hiernach in die Bank zu fahren. Samuel Goldman sah nämlich keinen Grund, nicht ganz normal zur Arbeit zu gehen.

      Zur gleichen Zeit, ein paar Kilometer vor der Stadt, in einer abgelegenen Parkbucht seitlich der Straße und gut geschützt durch ein paar Büsche, wachten gerade zwei junge Männer in Ihrem aufgemotzten Pontiac auf. Sie hatten die Nacht dort verbracht und im Wagen geschlafen. Der Beifahrer zündete sich eine Zigarette an, öffnete das Wagenfenster und blies den Rauch seines ersten Zuges ins Freie. Beide schwiegen. Es gab nichts zu sagen. Die Uhr im Fahrzeug zeigte kurz vor Sieben an. Es war noch zu früh, um loszufahren.

      Der Fahrer öffnete seine Türe, stieg aus und machte einige Streckübungen. Dann stellte er sich an einen Busch und urinierte mit lautem Strahl, schüttelte ab und zog den Reißverschluss seiner Hose mit einem Ruck wieder hoch. Er schaute in Richtung der Stadt. Greenville lag vor ihnen, und im Morgenlicht schien die Welt dort hinten sorglos und behütet. Er stieg wieder zurück in den Wagen. Immer noch sprachen sie kein Wort. Wozu auch. Sie hatten alles immer wieder bis in jedes Detail durchgesprochen, kannten die Routen hinein und wieder hinaus. Es war schließlich nicht das erste Mal für sie. Sie würden hier noch einige Zeit stehen bleiben und dann – so wie es der Zeitplan vorsah – in Richtung der Stadt fahren.

      In Greenville, im Stadtteil Pleasant, blickte Sam auf die Meute der Reporter und Fotografen, die sich vor seinem Haus versammelt hatte. Und es kamen in jeder Minute mehr und mehr dazu. TV-Sendewagen, in denen die Kamerateams lauerten und sich vor seinem Grundstück in Position brachten. Ihm war klar, er würde hier nicht einfach so durchkommen. Sein Auto stand in der Garage, und diese konnte er direkt über seine Küche betreten. Das war ein Vorteil, den er vielleicht nutzen konnte. Doch mit dem Wagen durch die Reporter und Fotografen hindurch zu kommen, war sicher nicht so einfach. Er konnte sich nicht vorstellen, dass man ihm höflich Platz machen und vielleicht auch noch für seine freie Abfahrt auf der Straße den Verkehr regeln würde. Er musste sich etwas einfallen lassen, und das tat er.

      Um kurz nach acht Uhr zog er seine Krawatte hoch, nahm seine Schlüssel und ging in die Garage. An der Wand hing ein zusammengerollter Gartenschlauch, den er herunter nahm, an den Wasserhahn anschloss und aufdrehte. Dann öffnete er das Elektrotor der Garage. Unmittelbar wurde es auf der Straße laut und unruhig. Die Meute war in heller Aufregung, und jeder wollte der Erste sein, der mit Samuel Goldman sprechen konnte. Sam hielt den Gartenschlauch vor sich und ging mit kräftigen Schritten über den Rasen auf die immer lauter werdende Menge zu. Zehn Meter vor ihnen drehte er das Ventil an der Schlauchspitze auf, und hielt den kräftigen Strahl direkt in die Mitte der Meute. Er schwenkte lustvoll von links nach rechts und wieder zurück, malte Zickzacklinien über den Köpfen der entsetzten Wartenden, und konnte schon nach kurzer Zeit beobachten, dass das Gros seiner Opfer bis auf die Unterwäsche durchnässt war.

      Die Menge löste sich blitzartig auf. Die einen flüchteten nach links, die anderen nach rechts, die Kameraleute suchten Schutz für ihre Ausrüstung und sich selbst in ihren Übertragungsfahrzeugen, in denen die Fahrer vorsichtshalber bereits die Scheibenwischer angemacht hatten. Ein ganz hartnäckiger Fotograf blieb noch mutterseelenallein in Sams Einfahrt stehen. Er schien von der unfreiwilligen Dusche noch unbeirrt zu sein, fotografierte sogar noch, ignorierend, dass keines der Fotos bei einem unter Wasserbeschuss stehenden Objektiv gelingen könnte. Sam wollte es nun wissen. Er hielt den Strahl direkt auf den beharrlichen Burschen und ging nochmals drei, vier Schritte auf diesen zu. Dann hatte sein Opfer offensichtlich die Nase voll und suchte, vollkommen