Manfred Lafrentz

Dindra Drachenreiterin


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es ihr jetzt erst gab. Kirin hatte es berührt. Es hatte an ihrem Hals gelegen und ihr Herz hatte dagegen geschlagen.

      „Woher kam sie?”, fragte sie. „Wo lebt ihre Familie?”

      „Ich weiß nicht viel. Sie wollte nie darüber reden. Ich weiß nur, dass sie aus der Ebene östlich der Berge kam. Vielleicht war sie eine Waise und wollte deshalb nicht darüber sprechen.” Etru lächelte wehmütig. „Wir sind eine Familie von einsamen Seelen, Din. Wir verlieren immer die, die wir lieben.”

      Sie konnte seine Traurigkeit nicht ertragen. „Ich werde nicht gehen”, sagte sie. „Ich werde bei dir bleiben.”

      Etru schüttelte den Kopf. „Doch, du wirst gehen. Ich wollte dich immer bei mir haben, wie einen Ersatz für deine Mutter, aber das ist falsch. Du bist ihr so ähnlich, Dindra, dass es mir wehtut, dich anzusehen. Als ich dich vorhin sah, mit den abgeschnittenen Haaren ...” Er stockte. „Genau so sah sie aus, als ich sie kennen lernte. Ich habe den Drachen deine Mutter weggenommen und nun nehmen die Drachen dich mir weg. Ich habe es immer geahnt. Es ist wie eine Schuld, die ich begleichen muss.” Er rieb mit der rechten Hand über seine Stirn, als wollte er etwas wegwischen. „Ich war so glücklich in der kurzen Zeit, in der ich mit deiner Mutter zusammen war.”

      „Hast du mich gehasst, weil ich sie getötet habe?”, fragte Dindra beklommen.

      Er lächelte und schüttelte den Kopf. „Ich bin ein Bauer, Dindra, aber kein Dummkopf. Du bist ein Geschenk, das sie mir dagelassen hat. Ich würde dich gerne bei mir behalten so lange ich lebe. Vierzehn Zeiten der heißen und kühlen Sonne sind nicht genug. Nicht mal hundert mal vierzehn wären genug, aber es geht um dich, das, was du willst. Du sollst es selbst bestimmen, so wie deine Mutter. Sie hat sich für etwas entschieden, und du sollst es auch können. Ich habe bei der ersten Entscheidung gewonnen, bei der zweiten verliere ich. Aber das ist nur gerecht. Ich sehe, es ist das, was du willst. Dann will ich es auch. Verzeih mir, dass ich dich für mich haben wollte.”

      „Warum hast du mir nie von Kirin erzählt?”

      Etru seufzte. „Ich hatte Angst. Ich glaubte, wenn ich dir von deiner Mutter erzählt hätte, wärst du noch früher weggegangen.”

      Dindra zuckte mit den Schultern. „Vielleicht akzeptieren sie mich gar nicht, und ich werde bald wieder hier sein.”

      Etru lächelte traurig. „Das glaube ich nicht.”

      Es waren nur noch wenige Tage bis zum Beginn der Zeit der kühlen Sonne, und sie erschienen Dindra, nun, nachdem die Entscheidung gefallen war, viel zu kurz. Sie redete oft mit Etru über Kirin, und er erzählte ihr alles, an das er sich erinnerte. Wie ihre Stimme geklungen hatte, wie sie seinen Geschichten gelauscht und seine Schnitzereien bewundert hatte, was sie gerne aß und was sie über die Ebene dachte.

      „Sie sagte oft, sie hätte Angst, in der Weite des Graslands zu ertrinken.” Etru lachte. „Sie war schon ein bisschen sonderbar.”

      „Sie war wie ich”, dachte Dindra, und der Gedanke machte sie glücklich und beunruhigte sie zugleich. Kirin erschien ihr wie eine geheimnisvolle Fremde, und das machte sie selbst ebenfalls zu einer solchen. Sie wünschte sich manchmal so sehr, sie hätte ihre Mutter kennen lernen dürfen, dass sie sich an ihren Lieblingsplatz am Bach zurückzog, um allein zu sein, damit niemand sie weinen sah, nicht einmal Etru. Vor allem nicht Etru. Er war die meiste Zeit bedrückt und traurig.

      Einmal, als sie auf dem Weg nach Hause war, begegnete sie Alfru.

      „Du siehst komisch aus, Din”, sagte er und schüttelte den Kopf.

      Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die wie immer nach allen Seiten abstanden.

      „Ich gehe fort”, sagte sie.

      „Ich hab es gehört. Goldfels.” Er verzog den Mund. Seine dichten Brauen waren eng zusammengezogen. „Warum?”

      Dindra zögerte. „Es ist das, was ich machen möchte. Es ist das, was meine Mutter gemacht hat.”

      „Jetzt bist du doch noch so weit gerannt, dass dich die Drachen holen.” Er lachte. Es klang verächtlich und traurig zugleich.

      Dindra spürte, dass er etwas sagen wollte, etwas, das vielleicht ihr Vater zu ihrer Mutter gesagt hatte.

      „Ich kann nicht bleiben, Alfru”, flüsterte sie.

      Er stand eine Weile mit gesenktem Kopf da. Dann nickte er und drehte sich um. Nach ein paar Schritten blieb er stehen.

      „Meine Mutter hat dich sowieso nicht gemocht.”

      Dindra lachte. „Ich weiß.”

      Alfru lachte ebenfalls, und einem Moment lang war es wie früher, als sie zusammen über das Gras der Ebene gelaufen waren. Dann zuckte er mit den Achseln. “Du warst immer viel zu schnell für mich.” Er winkte und ging davon.

      Dindra sah ihm nach und kam sich in diesem Augenblick seltsam erwachsen vor, weil ihr schmerzhaft bewusst war, dass sie etwas für immer verloren hatte und gleichzeitig darüber erleichtert war.

      In der Nacht vor ihrer Abreise hatte sie einen hässlichen Traum.

      Sie war von einer Dunkelheit umgeben, die schwärzer war als jede andere, die sie jemals gesehen hatte. Sie war wie die Schatten, die sich nachts in den Ecken versammeln, undurchdringliche Löcher, vor denen man zurückschaudert, weil man weiß, dass sich dort etwas verbergen könnte, das man nicht sehen möchte. Sie schritt durch diese Dunkelheit, blind, die Arme ausgestreckt, ohne auf etwas zu stoßen, und plötzlich wusste sie, dass noch etwas anderes neben ihr in dieser Finsternis war. Etwas Großes, das überall um sie herum zu sein schien. Es tastete nach ihr, als ob es sie suchte, ebenso blind wie sie selbst. Wenn es sie streifte, wich Dindra entsetzt aus. Es fühlte sich seltsam heiß an, aber es brannte nicht wie Feuer, sondern ließ sie schaudern, als ob sie von etwas Eisigem berührt würde. Wie eine Maus huschte sie hin und her, verzweifelt nach einem Weg aus dieser Dunkelheit suchend, während ihre Angst davor, von jenem unheimlichen Tasten gefunden zu werden, immer größer wurde.

      Dann merkte sie zu ihrem Entsetzen, dass plötzlich ein schwaches Leuchten von ihr ausging, das sich allmählich verstärkte. Mitten in der Dunkelheit wurde sie sichtbar, ohne selbst etwas von dem sehen zu können, was um sie herum lauerte. Aber sie merkte, spürte es auf der Haut, wie sich Augen auf sie richteten und näher kamen, und wie das, was nach ihr suchte, nach ihr greifen wollte.

      „Nein!”, schrie sie und schrak hoch. Sie war wach, saß auf dem Bett in ihrer Kammer, die Augen weit aufgerissen und in eine Dunkelheit starrend, die gegen die ihres Traumes fast hell wirkte. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, als wollte es sie aufreißen und hinausspringen. Ihre Hände waren schweißnass und in die Bettdecke gekrallt. Eine Weile saß sie nur da, zitterte am ganzen Leib und atmete stoßweise.

      „Ein Albtraum”, dachte sie, als sie sich allmählich beruhigte. Ein scheußlicher Albtraum. Warum jetzt, in der Nacht vor ihrer Abreise nach Goldfels? Sie überlegte. Hatte sie Angst vor der bevorstehenden Veränderung ihres Lebens, Angst, die sie sich nicht eingestehen wollte und deshalb den Weg durch ihre Träume nahm? Sorgfältig untersuchte sie ihre Gefühle. Sie war aufgeregt gewesen, ja. Aber Angst? Sie schüttelte den Kopf. Sie freute sich auf Goldfels, auf die Drachen und auch darauf, Ryll wiederzusehen. War es die Ungewissheit über das, was sie erwartete? Es bestand die Möglichkeit, dass man sie wieder wegschickte, weil sie ungeeignet war.

      Sie ließ sich zurück auf das Kopfkissen sinken. Ja, davor hatte sie Angst. Davor, den Traum, der wahr geworden war, wieder aufgeben zu müssen, kurz vor dem Ziel ihrer Wünsche abgewiesen zu werden.

      Sie drehte sich auf die Seite. Die Spitzen ihren abgeschnittenen Haare stachen ihr in die Wange. Vielleicht war es voreilig gewesen, sich mit Haut und Haar auf die Möglichkeit, Drachenreiterin zu werden, einzulassen. Sie wusste, es würde ihr das Herz brechen, wenn sie es nicht schaffte.

      „Ich darf nicht daran denken”, sagte sie sich, und als wollte sie dem Albtraum keine Gelegenheit mehr geben, Macht über sie zu gewinnen, blieb sie bis zum Morgen wach.

      Am