Thomas Hoffmann

Gorloin


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Lyana und Aeolin liefen ein paar Manneslängen voraus. Sie gingen still nebeneinander.

      Als der Frühnebel sich lichtete, um über den Baumwipfeln weiße Wolkenfetzen zu bilden, gelangten wir an steilere, mit schlanken Fichten bestandene Hänge. Zwischen Wurzeln und Gestein stiegen wir bergan. Der Fluss zu unserer Linken, der an stark abfallenden Stellen nicht vereist war, rauschte in Kaskaden von Wasserfällen talabwärts. Hinter einer hohen Bergflanke zog der Flusslauf sich nach Norden und wir gingen durch das steinige, von verschneiten Grasmatten bedeckte Flusstal aufwärts. Wir marschierten nicht schnell, trotzdem kam ich außer Atem. Noch jedes Mal, wenn wir aus der Ebene höher in die Berge hinauf stiegen, war es mir so gegangen. Nach ein paar Tagen hatte die Atemlosigkeit sich dann immer gelegt. Auch Sven und Kat atmeten heftig, weiße Atemwolken in der kalten Luft ausstoßend.

      Als die Sonne über den Berggrat kam, verabschiedeten die Elben sich von uns. Sonnenlicht begann auf hunderten kleiner Eisflächen zu funkeln. Die Schneefelder gleißten im Licht.

      „Mögen Landorlin und Vendona euren Pfad segnen,“ sagte einer der hochgewachsenen Krieger.

      Es war derselbe, der uns am Abend unserer Gefangennahme ins Dorf vorausgegangen war. Aeolin und Lyana hoben die Hand zum Gruß. Die Krieger grüßten schweigend zurück. Fedurin nutzte den Moment, da Kat nicht auf ihn achtete, um rasch an ihrer Lederjacke zu knabbern. Die beiden Elbenmädchen drehten sich ohne ein weiteres Abschiedswort um und stiegen talaufwärts. Kat, Sven und ich folgten ihnen.

      „Du kriegst was hinter die Ohren!“ zischte Kat Fedurin an.

      Als ich mich nach den Kriegern umblickte, waren sie im schneeglänzenden Flusstal nicht mehr zu sehen.

      ***

      Ein paar Marschstunden später mündete das Flusstal in ein weites Trogtal, dessen Mitte von einer verschneiten Eisfläche ausgefüllt wurde. Ein großer Raubvogel kreiste über den Talwänden. Wir rasteten zwischen von der Talwand heruntergebrochenen Steinbrocken, aßen Dörrfleisch aus dem Proviant, den Kat bei den Frauen des Dorfs organisiert hatte, und rauchten unsere Pfeifen. Aeolin und Lyana teilten sich Lyanas Pfeife. Fedurin bekam ein paar Handvoll Kastanien.

      „In Greifenhorst müssen wir uns neuen Tabak besorgen,“ meinte Kat. „Unser Vorrat ist ziemlich zusammengeschrumpft.“

      Aeolin wies auf ein Hochplateau zwischen schneebedeckten Bergspitzen. „Dort oben liegt der heilige See meines Clans.“

      Ich schaute zu der grauweißen Bergwüste hinauf. Die bizarre Landschaft aus Fels und Eis unterschied sich in nichts von der umliegenden Bergwelt. Nach der Erzählung Thweronunds hatte ich irgendwelche Anzeichen einer mystischen Erhabenheit erwartet, was genau, wusste ich nicht - eine verklärte Ausstrahlung vielleicht, die darauf hinwies, dass dort oben die sterbliche Welt von der Ewigkeit berührt würde. Auch meine Gefährten blickten forschend zu dem grauen Hochplateau hinauf.

      „Ich bin dort gewesen,“ sagte Aeolin nüchtern.

      Alle sahen wir sie fassungslos an.

      „Wie,“ rief Kat aus. „Du warst da oben? Ich dachte, es ist allen verboten, das heilige Gebiet zu betreten, außer den Alten, die in eure ewigen Jagdgründe eingehen wollen?“

      „Ist es auch,“ erklärte Aeolin ohne eine Regung. „Mein Clan würde mich umbringen, falls sie jemals davon erfahren.“

      Ich begriff es immer noch nicht. „Thweronund hat erzählt, jeder Sterbliche und jeder Elb, der nicht in die Heimat gehen will, bezahlt das Betreten des heiligen Tals mit den Tod.“

      „Das erzählen sie,“ antwortete Aeolin. „Schon die kleinen Kinder erschrecken sie mit diesen Geschichten. Als ich meine Federn errungen hatte, wollte ich herausfinden, was an den Sagen vom heiligen See wahr ist, und was nicht. Also bin ich hinaufgegangen.“

      Alle vier schwiegen wir betroffen. Ich musste daran denken, dass einer der Krieger über Aeolin gesagt hatte, sie höre es wohl, wenn andere über Furcht sprächen, aber das Wort sei nur leerer Schall in ihren Ohren.

      Mit belegter Stimme fragte Lyana: „Hast du den Nachen gesehen im Nebel auf dem See?“

      „Dort liegt ein Bergsee,“ sagte Aeolin mit ungerührter Stimme. „Aber über dem See stand kein Nebel, als ich dort war. Überall im flachen Wasser und auf dem steinigen Ufer lagen Knochen und schwarzgefaulte Lederreste. Viele Gebeine waren alt, ausgeblichen und blankgerieben zwischen den Kieseln. Ein paar Skelette lagen noch in den Resten ihrer Lederkleidung im flachen Uferwasser. Weiter oben am Strand hockte ein vertrockneter Leichnam, das weiße Haar um seinen Schädel wehte im Wind, ganz genau so, wie er sich hingehockt haben musste, als er kam, um auf den Nachen zu warten.“

      Niemand antwortete etwas auf Aeolins Erzählung.

      „Unser Pfad führt dort drüben den nördlichen Hang hinauf,“ erklärte Aeolin schließlich. „Zwischen den Gipfeln dahinter zieht sich ein weites Tal nach Nordosten. Diesem Tal müssen wir folgen.“

      „Über den Hang in das Hochgebirgstal schaffen wir es heute noch,“ meinte Lyana.

      Ihre Stimme klang spröde.

      ***

      Für den Aufstieg über den verschneiten Hang holten Kat, Sven und ich die mit Eisenspitzen versehenen Wanderstöcke aus dem Gepäck, die wir auf Anraten des Turmverwalters aus Dwarfencast mitgenommen hatten. Lyana verwendete ihren Stock nicht. Die Elbenmädchen liefen leichtfüßig den Schneehang entlang, als bestünde überhaupt keine Gefahr, auf lockerem Geröll unter dem Schnee abzugleiten oder auf dem vereisten Schnee auszurutschen. Vielleicht täuschte ich mich, aber es kam mir vor, als wären die Abdrücke von Lyanas Stiefeln und Aeolins Mokassins im Schnee flacher, als die von Kat, Sven und mir. Auch Fedurin ging sicher am Hang, obwohl er alle paar Manneslängen stehenblieb und sich den Hang mit ausgiebiger Gewissenhaftigkeit betrachtete, bevor er bereit war, weiterzugehen. Kat mochte ziehen und zerren wie sie wollte, der Esel bestand auf seiner vorsichtigen, langsamen Gangart.

      Im Zickzack stiegen wir hangaufwärts. Am späten Nachmittag erreichten wir die Hanghöhe und stiegen über ein sanft abfallendes Schneefeld hinunter in ein von gedrungenen Nadelgehölzen bestandenes Tal zwischen hoch aufragenden Bergriesen. Aeolin und Lyana gingen auf die Jagd. Kat, Sven und ich bauten das Zelt auf und suchten Feuerholz zusammen. Kat legte Fedurin eine Decke über und tränkte ihn am vereisten Bach in der Talmitte. Sie gab dem Esel Kastanien und Hafer, der noch aus Dwarfencast stammte.

      In der Dämmerung kamen die Elbenmädchen mit zwei Hasen als Beute zurück und wir entfachten das Lagerfeuer. Sven hieb weiteres Feuerholz für die Nacht. Als die Hasen über dem Feuer gegrillt waren, holte Kat eine der beiden Weinflaschen aus dem Gepäck.

      „Bei den Elben sind wir nicht recht dazu gekommen, aber ich finde, wir haben Grund zum Feiern.“

      Als wir sie alle anblickten, meinte sie lachend: „Schließlich habt ihr zwei euch gefunden, nicht wahr, Lyana und Aeolin. Und ich hab meine beiden Jungs auch endlich rumgekriegt!“

      Bei Wildbret und im Feuer gerösteten Süßkartoffeln war die Flasche Wein schneller geleert als wir gedacht hatten und wir holten die zweite Flasche auch noch aus dem Gepäck. Nach dem zweiten Becher Wein rückte Aeolin nah an Lyana heran und küsste sie ohne Zurückhaltung. Später holte Lyana ihre Flöte hervor. Sie spielte ihre sanften Melodien hinaus in die Nacht, die sich rings um unser Lagerfeuer breitete.

      Spät in der Nacht begann Kat leise für sich ein Lied zu summen. Als sie merkte, dass wir ihr lauschten, richtete sie sich auf. Behutsam stimmte sie ihr Lied an und nach der ersten Strophe nahm Lyana die Melodie mit der Flöte auf. Klar und doch zerbrechlich, voller tief empfundener Freude und zugleich voller Schmerz über die Vergänglichkeit allen Lebens klang Katrinas Lied in die Winternacht.

      „Wenn Liebe ein Sturm ist,

       gib mir Flügel, Liebster;

       aufschwingen möchte ich mich

       über Länder und Meer,