atmete erleichtert auf. Von den Ziegen wollte sie jetzt erst einmal nichts erzählen, denn eigentlich hatte sie ja versprechen müssen, in punkto Tierkauf keine Alleingänge mehr durchzuführen. Doch sie hatte kein Glück, denn jetzt sagte Lisa: "Auch wenn der Stall leer ist, können wir trotzdem mal gucken, ob Inge dort ist. Irgendwo muss sie ja sein."
Anita schlüpfte schnell in ihre unbequem hohen Schuhe und folgte den anderen. Nur Ursa ging noch hinter ihr. Die Stalltür war offen, doch es wurde allmählich kühl, denn die Sonne ging langsam unter. Gleich aus der vorderen Box schauten ihnen neugierig zwei Ziegen entgegen, eine weiße mit großen kaffeebraunen Flecken. Die andere, schwarz mit kleinen weißen Abzeichen, war wesentlich kleiner.
"Was ist das denn?" Verblüfft schaute Anne von den Ziegen zu Ursa, die verschämt zu Boden schaute.
"Hast du es also wieder gemacht!" rief Lisa verärgert. "Wir haben doch besprochen......"
Ursa unterbrach sie: "Ja, ich weiß. Aber die beiden brauchten dringend ein neues Zuhause. Und außerdem wollten wir doch sowieso Ziegen." Hilfe suchend schaute sie in die Runde.
"Ist ja auch egal im Moment." Anne schaute sich um. "Wir wollten doch Inge suchen, oder?"
Ursa war erleichtert. "Ich schau mal kurz oben über dem Stall nach", rief sie eifrig.
"Was soll sie denn da oben? Die steile Stiege würde sie doch eh nicht schaffen", meinte Lisa, doch Ursa war bereits nach oben verschwunden. "Hier ist sie nicht", rief sie nach unten und polterte die Treppe wieder herunter. "Und nun?"
"Wir teilen uns auf", sagte Anne stirnrunzelnd. "Weit kann sie ja nicht sein."
"Ich gehe zum Strand runter", sagte Ursa. "Lisa, kommst du mit?" Lisa nickte und die beiden machten sich, gemeinsam mit Trigger, auf den Weg. Schnell waren sie hinter den ersten Büschen verschwunden.
"Wollen wir in Richtung Dorf laufen?" fragte sie Anita. Die nickte.
"Ich gehe mit Micki den Weg dort an den Koppeln entlang", sagte Amelie aufgeregt. Sie war blass geworden vor lauter Sorge. Sogleich machte sie sich auf den Weg, doch durch ihre Gehbehinderung kam sie nur langsam voran. Micki, dieses Mal ohne Leine, lief vor ihr her und schnüffelte aufgeregt mal links, mal rechts. Amelie hatte Mühe voranzukommen, denn Baumwurzeln, die aus dem Boden ragten, versperrten ihr immer wieder den Weg. Und jetzt lief Micki auch noch weit voraus. "Micki!" rief sie, doch er gehorchte nicht. Im Gegenteil, laut bellend rannte er immer weiter. "Micki! Verdammt, hierher!" Amelie konnte nicht erkennen, wohin der Hund lief, denn sie musste auf den Weg achten, der sehr uneben war. Sie versuchte zu beschleunigen, gab es aber gleich wieder auf, denn sofort fing sie an unsicher zu stolpern. Sie blieb stehen und schaute angestrengt nach vorne. Da ihr Hund schneeweiß war, konnte sie ihn in der beginnenden Dunkelheit weit vorne erkennen. Er lief jetzt nicht mehr, sondern stand als weißer Fleck unter einem Baum. Er bellte wie verrückt. Amelie setzte sich wieder in Bewegung und holte beim Gehen ihr Handy heraus. Sie brauchte nur auf die "drei" zu drücken, um Ursa zu erreichen, die sich auch sogleich meldete.
"Hast du sie gefunden?"
"Ich weiß nicht", antwortete Amelie völlig außer Atem. "Micki hat etwas entdeckt, aber ich kann noch nicht erkennen, was es ist. Kommst du bitte?" Sie erklärte rasch, wo sie war. Dann kämpfte sie sich weiter über den unebenen Weg und stand nach einiger Zeit vor der ausladenden Buche. Inge saß davor, weit nach vorne gebeugt. Ihr Kopf lag auf ihrer Brust und die Arme hingen schlaff an den Seiten. Sie war völlig bewegungslos. Micki hatte aufgehört zu bellen, aber umrundete sie aufgeregt und schnüffelte dann an ihrem tief herunter gebeugtem Gesicht. "Inge?" Vor lauter Angst war Amelies Stimme kaum zu hören. Inge reagierte nicht. Weiter vorn hinter der Wegbiegung hörte Amelie jetzt Geräusche und Trigger löste sich aus der Dämmerung. Amelie hob ihren Gehstock, um ihn fernzuhalten, doch er wusste offenbar, dass er bei Inge vorsichtiger sein musste. Nie machte er Anstalten sie anzuspringen. Immer war er ihr gegenüber besonders vorsichtig. So legte er sich nun sofort hin, dicht an den leicht angewinkelten Beinen, als wolle er sie wärmen, schaute ihr von unten ins Gesicht und winselte. Und Inge reagierte, denn sie gab einen unartikulierten Laut von sich.
"Inge?" versuchte es Amelie noch einmal. Sie konnte wegen der Schmerzen im Rücken nicht in die Knie gehen, aber sie beugte sich über sie und berührte sie an der Schulter. Dann sah sie Ursa und Lisa um die Biegung kommen, das Handy an Lisas Ohr. Schwer atmend kamen sie näher. Sofort beugte sich Ursa über Inge und versuchte sie in eine normale Sitzposition zu bringen. Dann hob sie ihren Kopf an, den Inge, nachdem er wieder oben war, auch halten konnte. Mit angstvollen Augen schaute sie Ursa an.
"Gleich kommt Hilfe, Inge", murmelte sie nervös. "Die anderen sind auch gleich hier." Dann hockte sie sich neben ihre Freundin und nahm sie in den Arm um sie zu wärmen. Trigger lag nach wie vor auf der anderen Seite und schmiegte sich an ihre Beine, so als wüsste er, dass Inge jetzt vor allem viel Wärme benötigte. Micki kletterte auf ihren Schoß und rollte sich ruhig auf ihren Oberschenkeln zusammen. Lisa ging den Sandweg ein paar Schritte zurück um zu sehen, wann die anderen kamen. Und lange musste sie nicht warten, denn Anne und Anita kamen mit eiligen Schritten auf sie zu. Da sie auf dem Weg hierher am Hof vorbei kamen, war Anne schnell hineingelaufen und hatte nun eine Wolldecke dabei. Die breitete sie sogleich um Inges Schultern und Rücken. Keine der Frauen sprach. Sie warteten auf den Notarztwagen, den Lisa per Handy angefordert hatte. Es dauerte lange, dann endlich hörten sie in der Ferne das Martinshorn. Lisa, die den Weg ein Stück zurückgegangen war, sah, dass der Notarztwagen auf ihrem Hof zum Halten kam und jemand ausstieg. Lisa, die von den Frauen noch am sportlichsten war, setzte sich in Bewegung. Sie lief den holprigen Weg zurück zum Haus und schwenkte dabei wild die Arme. Als sie in Hörweite kam, fing sie an zu rufen: "Hierher! Hallo, hierher!" Der Sanitäter, der den Wagen verlassen hatte, entdeckte Lisa, die immer noch rufend und wild gestikulierend näher kam. Jetzt machte sie Zeichen den Weg zurück, den sie gekommen war, und der Mann verstand. Geschwind rannte er zum Wagen, setzte sich hinter das Steuer und Augenblicke später rumpelte der Notarztwagen den Weg auf sie zu. Er kam nur langsam voran, denn der unebene, mit Baumwurzeln überwucherte Weg ließ ihn unsanft hin und her schaukeln. Als er endlich bei ihnen war, standen die Frauen auf, nur Inge lehnte noch an dem Stamm. Die Wolldecke verhüllte sie fast völlig, so dass sie beinahe wie ein großer, grauer Stein aussah. Amelie hatte den nervösen Micki auf den Arm genommen und Ursa, die etwas abseits stand, hielt Trigger am Halsband fest.
Wie lange sitzt sie schon hier?" fragte der Arzt und schob ihren Ärmel hoch, um das Blutdruckgerät anzulegen. Wie fast immer übernahm Anne das Reden. "Wir wissen es nicht, aber es könnten ungefähr zwei Stunden sein."
Ernst schaute sie der Arzt von unten her an. "Sie ist völlig unterkühlt. Wir nehmen sie mit."
"Sie sollten wissen, dass sie gerade heute morgen die Diagnose ALS bekommen hat", meldete sich Ursa zu Wort.
"ALS?" murmelte der Arzt nachdenklich, während er weiter hantierte, einen Zugang legte und eine Spritze vom Assistenten entgegennahm.
"Glauben Sie, dass sie sich das Leben nehmen wollte?" fragte Amelie mit unsicherer Stimme. Lisa stieß ihr den Ellbogen in die Seite und nickte mit dem Kopf in Inges Richtung. Inge konnte sich im Augenblick zwar kaum bewegen, doch hören konnte sie immer noch gut.
"Nein, dass glaube ich nicht", murmelte er und trat zur Seite, damit die beiden Rettungsassistenten sie auf die Trage heben konnten.
Undeutlich kam es plötzlich von Inge: "Keine Gefahr. Ich will leben. Konnte nicht aufstehen." Dabei verzog sie das Gesicht und ihre Mimik glich einem Lächeln. Ein dünner Speichelfaden rann ihr aus dem Mundwinkel das Kinn herunter.
"Na sehen Sie", sagte der Arzt aufgeräumt und blickte lächelnd in die Runde. Dann verfrachteten sie Inge im Wagen. Anne stieg mit ein. Die anderen würden nachkommen.
Inzwischen war es fast vollkommen dunkel geworden, und der Notarztwagen blendete seine Scheinwerfer auf, als er anfuhr. Um die Patientin nicht völlig durchzuschütteln, fuhr er sehr langsam, so dass die nachfolgenden Frauen fast ebenso schnell waren. Amelie hatte sich bei Lisa untergehakt. Micki versuchte, selbst nach mehrmaligem Zurückrufen, bellend das Auto zu verfolgen. Wie fast immer gehorchte er nicht. Ursa, Anita und Trigger bildeten die Nachhut.
Inge