Ursula Mahr

Alt, aber herrlich mutig


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Lisa die nachdenkliche Traurigkeit, "und stehen Inge zur Seite, soweit wir es können." Die anderen nickten still.

      Ursa stand auf und ging zu Markus in den Stall. Er war gerade dabei, eine der Boxen dick mit Stroh auszustreuen, in der die beiden Ziegen bereits herumliefen. Er unterbrach seine Arbeit und schaute sie fragend an. Sie kam zum Boxengatter, lehnte sich dagegen und schaute auf die beiden Ziegen. "Unsere ersten Bewohnerinnen", meinte sie lächelnd. Markus schaute sie weiter stumm an, und sie bemerkte es. "Sie hat ALS", seufzte sie, "eine Krankheit, die tödlich verläuft."

      "Ich weiß", antwortete er ruhig.

      Erstaunt schaute Ursa ihn an. Sie räusperte sich. "Kann ich helfen? Ich muss was zu tun haben."

      Markus löste sich aus seiner Erstarrung. Er hatte die Frauen lieb gewonnen, jede einzelne auf ihre Art, und diese Nachricht tat ihm wahnsinnig leid. Er zeigte auf den Wassereimer und sagte rau: "Die Ziegen brauchen noch Wasser und Futter."

      Ursa war froh, dass sie sich ablenken konnte. Mit dem bis zum Rand gefüllten Eimer kam sie zur Box zurück. Markus war inzwischen dabei, frisches Heu in die Krippe zu füllen, das die Ziegen auch gleich anknabberten. Schweigsam verließ er danach den Stall um zum neuen Hühnerhaus hinüber zu gehen. Trigger kam leise in den Stall, stellte sich winselnd neben Ursa und stubste sie an. Als sie nicht reagierte, sondern weiter am Gatter lehnte und in Richtung Ziegen starrte, völlig in Gedanken versunken, ohne wirklich etwas zu sehen, stellte er sich auf die Hinterbeine, stützte sich mit den Vorderpfoten am Gatter ab und schaute wedelnd auf die beiden Ziegen, die sich dadurch gar nicht stören ließen, sondern weiter an den frischen Halmen naschten. Ursa musste wider Willen lachen. "Du bist ja fast größer als ich", staunte sie. Und als wäre das noch nicht genug, schleckte er ihr einfach kurz über die Wange. Lachend wehrte sie ihn ab und ihr wurde klar, dass es nichts brachte, für sie alle nichts brachte, in Trübsal zu versinken. Sie mussten mit dieser schrecklichen Nachricht klar kommen. Und am besten halfen sie Inge, wenn alles ganz normal weiterlief. Was sollten sie auch sonst tun? Gemeinsam mit Trigger ging sie zum Hühnerhaus hinüber. Markus wartete bereits auf sie. Er hatte die Hühner gefüttert, doch viel hatten die bisher nicht gefressen. Wahrscheinlich mussten sie sich erst aneinander und an ihr neues Zuhause gewöhnen. Markus zeigte Ursa noch, wo er das Futter untergebracht hatte, dann fuhr er nach Hause zum Kröger-Hof.

      Lisa hatte einen Hack-Wirsing-Auflauf zubereitet und brachte ihn gerade auf den Tisch, da kam Anita nach Hause. "Hallo Mädels", rief sie gut gelaunt, als sie ins Wohnzimmer trat. Sie war immer recht aufgekratzt, wenn sie aus Hamburg zurück kam. Die anderen kannten das schon. "Was ist, ihr trüben Tassen. Hängt hier etwa der Haussegen schief?" Sie lachte und kam mit wiegenden Hüften zum Sofa gestöckelt. Mit Schwung warf sie sich in einen freien Sessel, schlug graziös die Beine übereinander, breitete die Arme aus und seufzte mit geschlossenen Augen: "Ah, ist das schön wieder Zuhause zu sein." Als keine Reaktion kam, öffnete sie die Augen und schaute irritiert in die Runde. "Was ist?" fragte sie etwas beunruhigt.

      "Wir haben ein Problem", sagte Lisa leise.

      Neugierig beugte sich Anita vor. "Ein Problem?" Sie lachte unsicher. "Ist etwa die Heizung ausgefallen, oder was?" Sie war einfach noch nicht bereit für Probleme, sondern stand immer noch unter dem Einfluss ihres Hamburg-Ausflugs. Deshalb stand sie auch auf, ging an den Schrank und schenkte sich einen großen Whiskey ein. Mit zwei Schlucken leerte sie das Glas und schaute unwillig auf ihre Freundinnen herab, die dort saßen. Erst jetzt bemerkte sie, dass Inge fehlte. "Wo ist Inge?" fragte sie und wusste insgeheim, dass sie gleich eine wirklich schlechte Nachricht hören würde.

      "Inge hat endlich eine Diagnose bekommen."

      "Ja", ergänzte Anne, "aber behandeln können sie sie trotzdem nicht. Sie hat ALS."

      "ALS, was ist das denn?" fragte Anita genau wie vorher Ursa. Sie erklärten es ihr. "Oh Gott, das ist wirklich schlimm", flüsterte Anita erschrocken. "Und wie nimmt es Inge selbst auf?"

      "Sie ist sehr gefasst, aber auch sehr müde. Ich vermute, dass sie einen Schock erlitten hat und noch gar nicht realisiert hat, dass sie todkrank ist."

      Doch dem war nicht so. Inge war sich voll bewusst, wie es um sie stand. Sie war nicht in ihr Zimmer gegangen um zu schlafen, wie sie den anderen weisgemacht hatte, sondern versuchte im Internet alle Informationen über diese Krankheit finden. Sie wollte gewappnet sein, weil sie wusste, sie würde besser damit zurecht kommen, wenn sie ganz genau Bescheid wusste. Die Ärzte hatten ihr erzählt, dass sie am Ende friedlich einschlafen würde. Hier im Internet stand etwas ganz anderes, nämlich, dass man mehr oder weniger qualvoll erstickte, da das Zwerchfell nicht mehr in der Lage war, die Lunge zum Ein- und Ausatmen zu aktivieren. Inge beschloss, noch heute ein Testament aufzusetzen und weitere Vorkehrungen zu treffen. Maja war versorgt, wie sie fand. Schließlich war sie verheiratet. Inge machte sich um ihre älteste Tochter keine Sorgen. Doch wie sollte sie es mit ihrem Anteil am Hof regeln? Würde sie alles Karina vererben, dann würde es Probleme für ihre Freundinnen geben. Denn der Resthof wäre dann eventuell in finanzieller Gefahr, weil die Freundinnen vielleicht nicht in der Lage wären, ihre Tochter auszuzahlen. Inge seufzte. Sie hatte plötzlich keine Lust mehr, sich damit zu befassen. Lustlos warf sie den Füller hin, stand mühsam auf, verließ ihr Zimmer und schlich leise die Diele entlang aus dem Haus. Langsam ging sie an der Weide entlang Richtung Waldstück. Nach einer Weile sah sie in der Ferne zwei Rehe, die am Waldrand ästen. Sie wollte näher heran. Der schmale Sandweg wurde uneben. Baumwurzeln ragten aus der Erde hervor, und es fiel ihr schwer darüber hinweg zu steigen. Aber sie schaffte es. Einen Schritt nach dem anderen. Sie war schon recht nah, da hörte sie in unmittelbarer Nähe einen Raben im Geäst krächzen. Aufmerksam hoben beide Rehe den Kopf und lauschten. Wieder krächzte der Rabe und Inge schaute zu ihm hoch. Der schwarze Vogel hatte den Kopf schief gelegt und betrachtete sie neugierig mit einem Auge. Als sie wieder zu den Rehen schaute, waren sie nicht mehr da. Der Rabe hatte sie gewarnt. Wieder schaute sie zu ihm hinauf. Er saß immer noch da, beugte den Kopf zu ihr hinunter, sperrte seinen Schnabel auf und krächzte, als wolle er sie verhöhnen. Dann flog auch er fort. Inge schaute sich um. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie weit sie gegangen war. Der Hof lag weit weg, war nur noch als Spielzeughaus zu erkennen. Plötzlich spürte sie, wie erschöpft sie war. Sie ging zu der weit ausladenden Buche, auf der der Rabe gesessen hatte, stützte sich am Stamm ab und ließ sich auf den kühlen Waldboden nieder. Jetzt konnte sie das Haus gar nicht mehr sehen. Es war verschwunden hinter den hohen Grashalmen der verlassen daliegenden Weide. Es wurde wirklich Zeit, dass hier Tiere einzogen. Über diesen Gedanken schlief sie ein.

      "Inge schläft aber lange. Sollten wir sie nicht mal wecken? Sonst kann sie heute Nacht nicht schlafen", meinte Anne und räumte weiter den Geschirrspüler aus. Ursa wollte gerade nach draußen zu den Ziegen gehen. Die anderen hatten immer noch nicht mitgekriegt, dass sie neue Mitbewohner hatten.

      "Ich guck mal nach ihr", rief sie und verschwand in der Diele. Augenblicke später war sie wieder da. "Sie ist nicht in ihrem Zimmer, und bei Amelie ist sie auch nicht."

      Amelie tauchte hinter ihr auf und sagte besorgt: "Im Bad ist sie auch nicht. Vielleicht im Stall?"

      "Was soll sie denn dort? Da ist doch noch alles leer", meinte Lisa kopfschüttelnd.

      "Nun, ganz so leer ist er nicht mehr", meldete sich Ursas schlechtes Gewissen. Und als die anderen sie verdutzt und mit großen Augen anstarrten, rückte sie mit der Sprache heraus. "Na ja", sie wand sich, wusste nicht, wie sie es formulieren sollte, "ihr wisst ja, dass ich mit Markus auf diesem Geflügelmarkt war."

      "Nein, das wussten wir nicht", unterbrach Lisa sie schroff.

      Ursa schaute verunsichert zu Amelie hinüber. "Aber du wusstest es doch. Du warst doch dabei, als ich sagte, dass wir dorthin wollten."

      Amelie schüttelte den Kopf, war aber mit ihren Gedanken bei Inge: wo mochte sie wohl sein? Bei dieser Diagnose konnte doch alles passieren. Sie machte sich große Sorgen. Inge sollte jetzt auf keinen Fall allein sein.

      Als Ursa bemerkte, dass sie von Amelie keine Schützenhilfe bekommen würde, streckte sie sich und fing noch mal von vorn an. "Ich habe auf dem Geflügelmarkt sieben Hühner gekauft."

      Stille. Doch dann sagte Anita, die am Esstisch saß und ihre Knöchel stöhnend massierte, lapidar: