Ursula Mahr

Alt, aber herrlich mutig


Скачать книгу

Sie weinte jetzt ganz offen.

      Nach einer Weile, die sich unangenehm dehnte, meinte der Polizist: "Sie müssen bitte mitkommen und ihren Sohn identifizieren."

      Schlagartig hörte Anne auf zu weinen und schaute den Polizisten mit großen, verweinten Augen an. Nervös wischte sie sich über das nasse Gesicht.

      "Glauben Sie denn, dass mein Jonas vielleicht der Verletzte ist?" Hoffnung keimte in ihr auf.

      Doch der Polizist schüttelte den Kopf. "Leider nein. Anhand seines Ausweis, den er bei sich trug, können wir das ausschließen."

      Anne sackte wieder in sich zusammen, doch es kamen keine Tränen mehr.

      Nur Anita begleitete Anne zur Beerdigung. Die anderen Frauen waren der Meinung, dass Jonas und die fremden Männer ihnen genug angetan und offensichtlich das Gleiche oder Schlimmeres noch einmal geplant hatten. Anne nahm es hin. Sie konnte ihre Freundinnen sogar verstehen.

      Nach der Beerdigung kehrten die beiden ziemlich schnell zurück auf den Hof. Doch Anne wollte noch nicht im Haus sein. Sie hatte das Bedürfnis einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Allein. Ihr ging so viel durch den Kopf. Sie schlug den Sandweg zum Meer ein. Immer wehte hier oben im Norden an der Küste eine Brise, nie war es wirklich windstill. Ständig musste Anne ihre Haare aus der Stirn streichen. Heute kam der Wind von Osten und brachte gutes, aber auch kaltes Wetter mit sich. Schnee lag in der Luft. Doch wenn der Wind sich drehte und plötzlich von Westen kam, was nicht selten der Fall war, dann würde es nur Regen geben, keinen Schnee.

      Anne stand am Strand, schaute aufs Meer, wo die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden und der Himmel nicht mehr vom Meer zu unterscheiden war. Wie hatte es soweit kommen können, dass ihr Sohn Jonas sich so verhalten hatte. Sie konnte es nicht verstehen. Hatte sie denn alles falsch gemacht in der Erziehung? Aber es war müßig darüber nachzudenken. Jonas war tot. Ihr einziges Kind.

      Sie begann zu frieren, wollte gerade zurück zum Haus gehen, da schoss etwas Schwarzes aus der Dunkelheit auf sie zu. Anne erschrak fürchterlich, doch dann erkannte sie Trigger. Freundlich wedelnd schnüffelte er an ihrer Hand. Dann verschwand er wieder in der Dunkelheit und kam Augenblicke später mit Ursa zurück.

      "Was machst du hier im Dunkeln?" fragte diese.

      "Ach, ich wollte einfach nur mal allein sein", erwiderte Anne traurig.

      Nachdenklich schaute Ursa sie an. Dann sagte sie leise: "Du bist nicht Schuld an seinem Tod."

      "Nein, aber an dem, was aus ihm geworden ist", rief Anne heftig und schluchzte auf.

      Ursa schaute sie still an. Sie würde sich immer die Schuld geben, dachte sie voller Mitleid. Deshalb war es müßig, etwas dazu zu sagen. "Komm", sagte sie stattdessen, "es wird kalt." Arm in Arm gingen sie zurück zum Haus.

      Der Frühling nahte. Schnee hatte es in diesem Winter kaum gegeben. Wenn ab und an welcher fiel, war er meist mittags wieder weggetaut. Jetzt zeigten sich bereits die ersten Frühlingsblumen. Anne hatte viel im Garten gearbeitet und sich damit von ihrer Trauer abzulenken versucht. Im Gartencenter hatte sie einen kleinen Rotahorn gekauft im Gedenken an ihren Sohn. Sie konnte das Bäumchen von ihrem Zimmer aus sehen, wenn sie am Fenster stand. Direkt am Haus hatte sie eine Clematis gepflanzt, die allerdings noch nicht blühte. Aber die gelben Narzissen leuchteten schon von weitem. Dazu sah der Kontrast der neuen, himmelblauen Sitzbank direkt neben der Eingangstür sehr hübsch aus.

      Eine Hilfskraft muss her

      "Also, wenn wir uns Tiere anschaffen wollen, sollten wir bald mal damit anfangen", sagte Ursa abends beim Essen. Lisa hatte gemeinsam mit Amelie einen schmackhaften Eintopf mit viel buntem Gemüse zubereitet, der jetzt auf dem Tisch dampfte. Der Duft nach frischen Kräutern und Gewürzen stieg allen in die Nase.

      "Was für Tiere wollen wir denn?" fragte Anita, aber sie schien nicht ganz beim Thema zu sein, sondern beugte sich über die große Terrine und wedelte sich den köstlichen Essensduft direkt zu. "Hmm, lecker!" Anne kam mit den Tellern an den Tisch und verteilte sie.

      "Zunächst sollten wir uns Gedanken darüber machen, dass wir Hilfe benötigen. Tiere müssen gefüttert werden, ihre Hinterlassenschaften täglich beseitigt werden."

      "Also wirklich, dieses Thema doch nicht beim Essen", empörte sich Inge und schüttelte missbilligend den Kopf.

      "Stell dich nicht so an. Du wirst noch öfter damit zu tun haben, als dir lieb ist, wenn wir erst einmal einen Stall voll Viecher haben", grinste Anne. "Aber jetzt erst mal der Reihe nach. Wir werden schon morgen ein Inserat aufgeben. Am besten in der Zeitung, die hier in der Gegend gelesen wird."

      "Ja", warf Ursa begeistert ein. "Vielleicht auch noch im Internet."

      "Genau", nickte Lisa. "Und wenn wir dann eine kompetente Hilfskraft gefunden haben, können wir bei den Bauern in der Umgebung fragen, ob sie Tiere zu verkaufen haben."

      "So machen wir das." Ursa nickte zufrieden und griff nach dem Schöpflöffel. "Aber jetzt wird erst einmal gegessen." Die anderen löffelten bereits von ihren Tellern. Und plötzlich herrschte zufriedene Ruhe am Tisch.

      Abends setzten sie gemeinsam einen Text auf, mit dem Anne und Anita am nächsten Morgen in die Zeitungsredaktion der Kreisstadt fuhren. Ursa saß inzwischen am Computer und gab die Suche dort ein.

      Sie mussten gar nicht lange warten, da trudelten die ersten Antworten ein. Viele waren es nicht, und von diesen übrig gebliebenen konnten die Frauen auch gleich zwei aussortieren, die völlig indiskutabel waren. Drei waren übrig geblieben, die interessant zu sein schienen.

      "Schaut mal, die erste Antwort kommt ganz aus der Nähe", meinte Lisa.

      "Und die hier", Ursa wedelte mit der nächsten, die sie ausgedruckt hatte, "kommt ganz aus Husum."

      "Und die dritte?" fragte Inge.

      "Hm, warte mal. Von dem Ort habe ich noch nie gehört. Aber anhand der Postleitzahl müsste das im Umkreis von Kiel sein. Oder doch Neumünster?" Ursa lachte. "Irgendwo aus Kleinkleckersdorf." Die anderen fielen kichernd ein.

      "Wo soll er wohnen?" fragte Anne plötzlich wieder ernst und überlegte weiter: "Ich meine, wohnen könnte er ja über den Ställen, aber was ist mit Duschen? Mit Essen?"

      "Stimmt", meinte Lisa, "wollen wir wirklich, dass ein Mann zum Duschen ins Haus kommt? Mit uns essen kann er ja, aber duschen...?" Sie wiegte bedenklich den Kopf. Nein, das wollte keine.

      "Wir müssen das Ganze anders aufziehen", meinte Lisa. "Die Handwerker, die die Räume über dem Stall ausgebaut haben, müssen noch mal ran und eine Dusche einbauen. Essen, finde ich, sollte der Mann gemeinsam mit uns, schon allein, damit wir ihn besser kennen lernen können."

      "Meine Güte, ist das alles kompliziert", murmelte Amelie und die anderen nickten. Nur Anne meinte nachdenklich: "So kompliziert ist das doch gar nicht." Sie lächelte in die Runde und fügte munter hinzu: "Wir haben doch schon fließend Wasser im Stall, und für die Zimmer darüber haben wir Heizungen einbauen lassen. Wenn eines der Räume zum Bad umgebaut wird...... Das muss doch funktionieren."

      Und so wurden die Handwerker beauftragt, ein kleines Bad über den Boxen einzubauen.

      Zeitgleich nahmen die Frauen Kontakt mit den drei Bewerbern auf. Zuerst wurde der Mann aus Husum eingeladen. Er kam mit einem Motorrad und hatte bereits graues Haar, doch konnte er nicht älter als Anfang fünfzig sein, schätzte Anita mit Kennerblick. Muskulös und fast ein wenig übergewichtig stand er in seiner Ledermontur in der Tür, so dass Trigger sofort anfing zu knurren. Doch ein energischer Wink von Ursa und er verzog sich auf seine Decke, beobachtete aber von dort aufmerksam das Geschehen.

      "Warum ketten Sie den Hund nicht draußen an?" fragte der Mann mit abweisendem Blick auf den Hund.

      "Warum sollten wir?" gab Ursa spitz zurück. "Der Hund gehört zur Familie."

      Der Mann machte ein unwilliges Geräusch und wandte sich an die anderen Frauen, die ihn interessiert