Ursula Mahr

Alt, aber herrlich mutig


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und meist mehr als eine Stunde wegblieb, schlug heute einen gemeinsamen Spaziergang vor.

      "Warum eigentlich nicht?" meinte Anne gut gelaunt und nahm Amelie in den Arm. "Was ist mit dir und Micki? Ihr kommt doch auch mit, oder?"

      "Ich weiß nicht", meinte Amelie zögerlich mit einem undefinierbaren Blick auf Trigger.

      "Ach komm", sagte Ursa, "die beiden müssen sich doch irgendwann sowieso aneinander gewöhnen."

      "Kommt ihr?" rief Lisa durch die offene Stubentür und verdrehte die Augen, als sie hörte, dass es wieder um die Hunde ging. "Wir warten draußen!" rief sie und verließ mit Anita und Inge im Schlepptau das Haus.

      Als die anderen endlich auch nach draußen kamen, mit beiden Hunden, wie Lisa erstaunt feststellte, traten Inge und Anita vor Kälte bereits von einem Fuß auf den anderen. Anita schlug ihre Arme rhythmisch gegen den Körper, um sich zu wärmen. Inge hingegen ließ ihre Arme hängen. Sie hatte in letzter Zeit Schwierigkeiten sie zu heben. Aber sie maß diesem Umstand keine größere Bedeutung bei.

      "Huch, ist das kalt", fröstelte Anne und zupfte sogleich ihren Schal höher. Tatsächlich hatte der Wind zugenommen, hatte sich fast zu einem Sturm ausgewachsen. In den Kronen der wenigen Bäume im Hof und der dahinter liegenden Koppel raschelte es heftig, und die kleineren Äste bogen sich im Wind. Die Luft war frisch und feucht, denn noch nicht mal vor einer Stunde war der erste Schneeregen gefallen. Unschlüssig und fröstelnd standen die Frauen herum.

      "Was ist, Mädels?" grinste Ursa. "Seid ihr etwa aus Zucker?"

      Anita boxte ihr leicht gegen den Arm und marschierte gemeinsam mit ihr los. Die anderen folgten. Trigger, der interessiert an der Hauswand schnüffelnd gewartet hatte, sprang vergnügt hinter den Frauen her. Er hatte sich wirklich gut integriert und ignorierte Micki fast völlig. Damit schien der kleine Weiße leben zu können, denn er knurrte nicht mehr, sobald er seiner ansichtig wurde. Nur Amelie traute dem Frieden noch nicht und hielt Micki lieber an der Leine. Auch war sie bisher noch nicht bereit gewesen, gemeinsam mit Ursa und ihrem Hund unterwegs zu sein. Heute war das erste Mal.

      Der Weg zur Nordsee bestand nur aus einem schmalen, sanft abfallenden Sandweg, beidseitig begrenzt durch Wiesen und einige Büsche mit Hagebutten.

      Endlich waren sie unten am Strand. Feine Gischt, die leicht salzig schmeckte, sprühte ihnen ins Gesicht. Kein Mensch war zu sehen, lediglich in der Ferne sahen sie Lichter in anderen Höfen. Auch am Horizont über dem Meer sahen sie Lichter. Das könnte vielleicht Nordstrand oder eine der Halligen sein, vermuteten die Frauen. Und sie mussten lachen, als sie sich an einen Ausflugstag vor zwei Jahren erinnerten. Sie waren auf die Insel Föhr gefahren, saßen auf der Terrasse der Milchbar und schauten über das Meer. Plötzlich fragte Amelie alarmiert: "Was sind das dort draußen für Schiffe? Sind das etwa Kriegsschiffe?" Was sie sah, waren die Häuser auf den Warften der Hallig Langeneß, die am Horizont zu sehen waren. Noch heute wurde Amelie von ihren Freundinnen damit aufgezogen, aber sie nahm es gutmütig hin.

      Amelie leinte Micki ab, der sofort in weitem Bogen, aber nicht aggressiv um Trigger herumsauste. Und der tat dem kleinen Wirbelwind den Gefallen und beugte spielerisch seine Vorderpfoten und sprang dann mit wedelnder Rute ein Stück auf den Kleinen zu, der dadurch noch schneller wurde. Die beiden schienen sich freundlich anzunähern, und Amelie entspannte sich endlich.

      Die Wellen schlugen heftig schäumend an den Strand, und die schon tief stehende Sonne zeigte sich kurz hinter den dahinstürmenden Wolken. Dann war sie wieder verschwunden und das Licht veränderte sich. Der Himmel wurde dunkler, doch am Horizont zauberten einzelne Sonnenstrahlen, die durch die Wolkendecke brachen, silberne Lichteffekte auf das Wasser. Es war wunderschön. Die Luft war klar und erfrischend.

      Nach einer guten halben Stunde wollte Amelie zurück. Es wurde ihr zu anstrengend. Auch Inge, Anne und Anita wollten wieder heim. Nur Lisa hatte Lust, mit Ursa noch ein Stück weiterzulaufen. Aber bevor sich die vier auf den Rückweg machten, ging Amelie noch zu Ursa, nahm sie in den Arm und drückte sie. "Danke", murmelte sie lächelnd und schaute auf die beiden Hunde. Als sie sich mit Micki und den anderen entfernte, blieb Trigger verdutzt stehen und schaute ihnen mit gespitzten Ohren und hoch erhobener Rute hinterher. Doch dann drehte er sich plötzlich um und lief in großen Sprüngen hinter Ursa und Lisa her.

      Der Weihnachtsmorgen war da. Bereits gegen zehn Uhr kam das erste Auto mit Stephan, Cosima und Maren. Stephan hatte auch seine Schwester Marie mitgebracht, die selbst kein Auto hatte. Sie alle waren das erste Mal hier, und die drei Besucherinnen blieben staunend stehen und schauten sich um. Stephan hantierte derweil am Kofferraum und belud sich mit Taschen und in buntes Papier gewickelte Geschenke. Lisa, die mit Anne am Küchenfenster stand und hinausblickte, seufzte: "Keine Geschenke waren abgemacht. Doch was sehe ich: lauter Geschenke. Wahrscheinlich erwarten sie dafür eine finanzielle Gegenleistung", vermutete sie bitter. Anne zuckte lächelnd die Schultern, und Lisa entfernte sich in Richtung Tür, um ihre Familie in Empfang zu nehmen.

      "Meine Güte, das ist kein Resthof, sondern ein Gutshof", staunte Stephan beeindruckt und drehte sich, immer noch mit dem Gepäck schwer beladen, um die eigene Achse.

      "Das hat ja auch genug gekostet", zischte Cosima ihm zu. "Für uns ist ja nichts mehr übrig geblieben."

      Anita, die wie alle anderen, diese Äußerung gehört hatte, drängte sich nach vorn. "Leider ist unser Gutshof, so wie du ihn nennst, nicht halb so groß wie du annimmst. Wir haben nämlich nur ein Gästezimmer. Und das wirst du dir mit deiner Tochter und Marie teilen müssen. Dein Mann", sie lächelte Stephan an und berührte ihn leicht am Arm, "wird mit Annes Sohn Jonas über dem Stall schlafen. Dort gibt es vier kleine Räume, die auch beheizbar sind." Anita entfernte sich von Stephan, warf aber einen vielsagenden Blick zurück über die Schulter.

      "Darf ich auch im Stall schlafen?" fragte Maren aufgeregt. Sie hatte keine Lust, eine oder gar zwei Nächte mit ihrer Mutter in einem Zimmer zu verbringen.

      "Ja, natürlich", antwortete Lisa. "Wenn du willst. aber komfortabel ist es nicht."

      "Das macht nichts, Oma", antwortete Maren begeistert und Lisa zuckte zusammen. Sie mochte es nicht Oma genannt zu werden. Sie fühlte sich dann älter, als sie ohnehin schon war.

      "Ja, dann. Bringen wir das Gepäck doch gleich hinüber", meinte sie und ging voraus. Anne begleitete inzwischen Cosima und Marie nach oben ins Gästezimmer.

      Unmittelbar nach Stephan und seiner Familie kamen Inges Töchter auf dem Hof an. In Majas Wagen, denn Karina besaß keines. Als sie noch ihre Mutter in Hamburg besuchte, lieh sie sich immer deren Auto aus, um Freunde zu besuchen. Inge blieb dann allein zurück mit ihrer Sehnsucht nach dieser Tochter. Und natürlich eilte sie auch jetzt aus dem Haus, nahm ihre Lieblingstochter lachend in den Arm, drückte und herzte sie und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Maja stand daneben und schaute zu. Als die Begrüßung so gar kein Ende nehmen wollte, holte Maja das Gepäck aus dem Kofferraum und ging mit einem traurigen Lächeln an Ursa, Amelie und Anita vorbei, die in der Haustür standen. Inge bemerkte es nicht einmal. Sie hatte nur Augen für Karina. Amelie griff unbeholfen nach einer der Taschen, die Maja trug, doch die schüttelte nur den Kopf.

      "Kommt doch erst mal rein und wärmt euch auf", sagte Amelie statt dessen freundlich.

      Ursa meinte an Maja gewandt: "Stell die Taschen erst mal hier im Flur ab. Ihr müsst nachher sowieso rüber in den Stall."

      Als Maja daraufhin neugierig die Augenbrauen hob, lachte Ursa: "Nein, ihr müsst nicht bei den Tieren schlafen. Wir haben noch keine. Aber gemütliche kleine Übernachtungsmöglichkeiten über den Ställen. Aber jetzt komm erst mal in die Küche. Dort gibt es heißen Tee. Den magst du doch, oder?" Es war offensichtlich, dass sie und auch Amelie versuchten, Maja abzulenken und ihr ein Gefühl von Willkommen geben wollten.

      Kurze Zeit später kamen auch Inge und Karina, eng umschlungen und fröhlich lachend, in die Küche. Inge schaute ihre älteste Tochter an, als sehe sie sie zum ersten Mal. Das Lächeln verschwand von ihren Zügen. "Hallo Maja. Schön, dass du auch da bist." Das, was sie sagte, klang nicht echt. Aber sie ging zu ihrer Tochter hinüber, nahm sie kurz in den Arm und klopfte ihr begütigend mehrmals auf den Rücken. Dabei wandte sie sich bereits wieder ab. Als sie