Rute zu Amelie. Als er an einem der Männer vorbeikam, trat der nach ihm. Micki heulte auf, doch richtig getroffen schien er nicht, denn er lief weiter und verschwand unter dem Stubentisch. Ursa sah die Angst in den Augen ihrer Freundinnen. Was sollten sie bloß machen? Fieberhaft überlegte sie, doch im Moment fiel ihr nichts ein.
"Setz dich", wiederholte der eine Mann drohend. "Und halte diesen Köter fest", fügte er nuschelnd hinzu. Als sie langsam ins Zimmer trat und sich auf die Sessellehne zu Inge setzte, Trigger dicht an ihrer Seite, sah sie, dass der zweite Mann ein Messer in der Hand hatte, sie diabolisch angrinste und sich damit die Nägel reinigte.
"So, Oma", wandte sich der erste Mann an Lisa, "du holst uns jetzt was Schönes zu trinken. Alkohol, verstehst du?"
"Nennen Sie mich nicht Oma!" erboste sich Lisa trotz ihrer Angst.
"Ich nenne dich so, wie ich will - Oma." Dabei dehnte er das Wort Oma höhnisch.
Lisa stand auf, ging in die Küche und holte die zwei Flaschen Sekt aus dem Kühlschrank, den sich die Frauen extra für Silvester besorgt hatten.
"Ist das alles? Du willst uns wohl verarschen!"
Anne zeigte daraufhin zum Stubenschrank. Sie schien wie paralysiert, weil ihr Sohn sie alle in diese Situation gebracht hatte.
"Los Oma", der Mann schien sich auf Lisa einzuschießen. Mit unbewegtem Gesicht holte Lisa alles an alkoholischen Getränken, die die Frauen vor vielen Wochen aus ihren einzelnen Wohnungen mitgebracht hatten und stellte alles auf den Tisch: ein Rest Whiskey, eine halbe Flasche Rum, eine fast volle Flasche Gin und eine noch nicht angebrochene Flasche Sherry. Ohne die Männer anzuschauen, setzte sie sich wieder und die Männer begannen zu trinken.
"Hey, du da!" brüllte einer. "Mach die Musik lauter!"
Amelie versuchte vom Sessel aufzustehen. Als das nicht schnell genug gelang, trat er heftig dagegen, so dass Amelie wieder zurückfiel. Die beiden fremden Männer gröhlten vor Begeisterung, und Jonas grinste zufrieden. Anne stand auf und machte die Musik lauter.
"Noch lauter!" schrie der Mann, legte das Messer auf den Tisch und schlug sich vor Lachen auf die Schenkel. Völlig verstört schaute Anne ihren Sohn an. Doch der grinste nur und meinte: "Du hörst, was mein Freund gesagt hat." Dann tranken die bereits stark alkoholisierten Männer fast alle Flaschen leer, natürlich ohne Gläser zu benutzen. Nach einer Weile stand einer auf, versuchte zu tanzen und fiel dabei gegen den Schrank. Die Gläser darin klirrten, und irgendetwas schien auch entzwei zu gehen. Der Mann schüttete sich aus vor Lachen, doch es war kein freundliches Lachen. Als er zu seinem Platz zurücktorkelte, kam er dicht an Ursa vorbei und Trigger versuchte zuzuschnappen. Ursa zog ihn erschrocken zurück. Auch der Mann hatte sich wohl erschrocken, doch er drehte sich unbeholfen um und zischte an Ursa gewandt: "Noch einmal und ich stech ihn ab." Seine Worte wurden übertönt von dem gefährlichen Knurren des großen Hundes, der nun auch die Lefzen hochgezogen hatte und sein Gebiss zeigte. Fixieren konnte er den Mann nicht richtig, denn Ursa hielt seinen Kopf ängstlich an sich gedrückt. Wankend blieb der Mann stehen und lallte, an seine Kumpane gewandt: "Ich hab keine Lust mehr. Kommt, wir gehen." Ohne zu zögern, erhoben sich die beiden und gingen langsam in Richtung Tür. Die Frauen schauten sich aufatmend an. Doch dann kehrte Jonas zurück, und Triggers Knurren wurde wieder lauter und bedrohlicher. Dazwischen machte er wütende Schnappbewegungen in die Luft. Hätte Ursa ihn losgelassen, wäre er Jonas wohl an die Kehle gesprungen. Doch der kümmerte sich nicht darum, sondern torkelte zu seiner Mutter, beugte sich tief über sie und blies ihr seinen Alkoholatem ins Gesicht.
"Gib mir deinen Autoschlüssel", forderte er leise. "Du hast doch getankt, oder?"
Anne nickte erschüttert. So hatte sie ihren Sohn noch nie erlebt. Stumm zeigte sie auf die Anrichte, wo der Schlüssel lag. Jonas nahm ihn, doch kam er noch mal zurück, beugte sich wieder über seine Mutter, die vor Angst und Enttäuschung den Atem anhielt.
"Danke Mama", flüsterte er scheinheilig und grinste. "Du wirst doch nicht die Polizei verständigen, oder?"
Vehement schüttelte sie den Kopf. Er richtete sich auf, schaute in die Runde und meinte laut: "Das gilt auch für euch, ihr geizigen alten Weiber"!"
Die beiden anderen Männer waren zurückgekommen und standen in der Wohnzimmertür. Sie schienen es jetzt eilig zu haben, denn einer sagte: "Kommst du jetzt endlich?" Jonas ging zu ihnen, drehte sich jedoch noch einmal halb um und zeigte stumm mit dem Finger auf jede einzelne Frau. Dann waren die drei verschwunden. Wenige Augenblicke später hörte man den Automotor aufheulen, und die Frauen entspannten sich ein wenig. Trigger, der nun wieder frei war, stürzte zur geschlossenen Haustür, bellte und jaulte und kratzte frustriert daran. Als er merkte, dass er keinen Erfolg hatte, kam er stark hechelnd und leicht wedelnd zurück. Ursa knuddelte ihn heftig, und das Wedeln wurde stärker. Micki kam unter dem Tisch hervor und bat Amelie mit eingeklemmter Rute, auf den Schoß genommen zu werden, was diese auch sofort tat.
"Mein Gott, was war das denn?" murmelte Anita und Anne schüttelte fassungslos den Kopf. Dann fing sie an zu weinen. Sofort setzten sich Ursa und Anita neben sie und nahmen sie in den Arm. Anita griff dabei nach hinten und umklammerte Amelies Hand. Inge und Lisa beugten sich von oben über die Sofalehne und umarmten die anderen. Nach einer Weile beruhigten sich die Frauen langsam. Doch keine dachte mehr ans Essen. Ihnen allen war der Appetit vergangen. Doch ins Bett wollte auch keine. Sie wollten einfach nur beisammen bleiben und sich gegenseitig trösten und Kraft geben.
Der Unfall
Mehr als eine Woche hörten sie nichts von Jonas. Er kam gar nicht auf die Idee, seiner Mutter ihr Auto zurückzubringen. Gott sei Dank hatten sie noch Anitas Auto, um Lebensmittel einzukaufen.
Doch dann stand eines Tages die Polizei vor der Tür. Amelie und Inge hatten sich hingelegt, doch Lisa arbeitete in der Küche und sah sie durchs Küchenfenster auf den Hof fahren. Aufgeregt rief sie nach hinten: "Die Polizei kommt!" Dann wischte sie sich die Hände ab und folgte den Freundinnen, die im Wohnzimmer beschäftigt gewesen waren, neugierig nach draußen. Die Hunde folgten. Langsam stiegen zwei Polizisten aus und setzten ihre Mützen auf. Dann kamen sie näher. Lisa hatte immer noch ihr Geschirrtuch in der Hand und wischte hektisch immer wieder ihre Finger ab.
"Frau Heide?" fragte einer der Polizisten und schaute fragend von einer zu anderen.
"Ja, ich", kam es leise von Anne.
"Können wir reingehen, Frau Heide?"
Sie nickte, ging voran und wies wortlos in Richtung Essstühle. Als alle saßen, holte er umständlich einen Notizblock hervor, als würde er das, was er zu sagen hatte, gern hinauszögern.
"Gehört Ihnen der Wagen mit folgendem Kennzeichen?" Er las von seinem Block ab. Anne nickte, und ihre Finger verkrampften sich ineinander. Der Polizist blickte hoch und schaute Anne mitleidig an.
"Es tut mir leid, aber es hat einen Unfall gegeben."
"Mein Sohn?" flüsterte Anne entsetzt und Anita griff nach ihrer Hand und drückte sie.
"Ja", antwortete der Polizist gedehnt und blickte wieder auf seine Notizen. "Es tut mir leid", wiederholte er. "Es hat Tote gegeben bei dem Unfall."
Anne schlug ihre Hand vor den Mund und stieß ein unartikuliertes Schluchzen aus. Der Polizist fasste sich und fuhr mit fester Stimme fort: "Es waren drei in Ihrem Wagen. Und alle drei waren stark alkoholisiert. Der Fahrer und der Beifahrer sind tödlich verunglückt, der dritte, der hinten saß, wurde schwer verletzt."
Anne hatte nun beide Hände im Gesicht und die Tränen liefen ungehindert ihre Wangen hinab.
"Herrje", flüsterte Lisa, "wann ist denn das passiert?"
"Gestern Nacht. Die drei waren wohl auf dem Weg zu ihnen, denn der Unfall ist nicht weit von hier geschehen."
"Auf dem Weg zu uns?" fragte Ursa entsetzt und schaute die anderen an. Ihr ging durch den Kopf, dass sie alle in dem ganzen Unglück Glück gehabt hatten, denn wenn die drei Männer auf dem Weg zu ihnen waren, wollten sie bestimmt nicht kommen, um den Wagen wieder abzuliefern.