"Was ist? Bekommen wir auch einen Tee?"
Jonas traf gegen Mittag ein, und diese Begrüßung verlief sehr viel herzlicher. Allerdings nur von Annes Seite. Sie liebte ihren einzigen Sohn abgöttisch und versuchte, ihm jeden Wunsch zu erfüllen.
"Hallo Mama", sagte Jonas, rang sich mühselig ein kleines Lächeln ab und löste sich sogleich aus der stürmischen Umarmung seiner Mutter. Aber Anne ließ sich nicht so leicht abschütteln, denn dafür sah sie ihren Sohn viel zu selten. Das war auch schon in Hamburg so.
"Mein Junge", strahlte sie ihn an und hielt ihn an den Armen fest. "Wie schön, dass du endlich mal kommst und mich besuchst." Ihr Sohn antwortete nicht, schaute sich nur um und stieß einen leisen Pfiff aus. "Komm, ich zeige dir, wo du übernachten kannst." Damit zog Anne ihn mit sich fort.
Anita, Ursa und Inge hatten die Szene beobachtet. Alle drei kannten Jonas schon aus Kindertagen. Und zwei von ihnen hielten nicht sehr viel von ihm. Sie lehnten am Tresen der offen gestalteten Küche und Ursa meinte ironisch: "Na, das wird ganz bestimmt ein schönes Weihnachtsfest."
"Wieso", antwortete Inge, "wenn sie ihren Sohn doch liebt."
Ursa schaute Anita an, sagte aber nichts. Beide wussten sie, dass Inge eine ihrer Töchter auch sehr liebte, ohne Kompromisse. Für diese Tochter tat sie alles. Karina brauchte nur mit dem Finger zu schnippen, sofort stand Inge parat. An der anderen Tochter, an Maja, ließ sie oft kein gutes Haar, obwohl die immer wieder verzweifelt um die Liebe ihrer Mutter buhlte, jedoch ohne Erfolg. Aber Inge erkannte das überhaupt nicht. Letzte Weihnachten, so hatte Inge mal erzählt, habe sie ihren Töchtern dasselbe Geschenk gekauft. Doch Abends dann heimlich unter Karinas Kopfkissen zusätzlich einen Kaschmirpullover gelegt. Immer wurde diese Tochter bevorzugt. Bei vielen ihrer Reisen in aller Herren Länder war Karina stets dabei. Und natürlich bezahlte Inge alles. Mit Maja verreiste sie nie.
Der Weihnachtsabend verlief so wie befürchtet: Jonas schmiss sich in einen Sessel und ließ sich von seiner Mutter bedienen. Cosima zickte herum, weil ihre Schwiegermutter kein Geld zur Verfügung stellen konnte oder wollte für das Elite-Internat ihrer Tochter. Ursa wirkte depressiv und nahm kaum an einer Unterhaltung teil, weil sich ihr Sohn nicht mal per Telefon gemeldet hatte. Und Marie, Lisas Tochter, wirkte unendlich nervös, sprach kaum, schien nicht gern hier zu sein und stand ständig am Fenster, als würde sie auf etwas warten. Selbst die Hunde spürten die angespannte Stimmung und verkrochen sich auf ihre Decken. Minka, Annes Katze, hatte sich bereits, als der Besuch eintraf, ins obere Stockwerk zurückgezogen. Ursa war froh, als sie sich irgendwann entschuldigen konnte, weil die Hunde raus mussten. Trigger und Micki verstanden sich mittlerweile soweit, dass sie zusammen ausgeführt werden konnten.
Am nächsten Morgen beim Frühstück fehlte Jonas zunächst. Ihm war es am Abend zuvor zu langweilig geworden, und er war deshalb mit seinem alten Wagen noch weggefahren und erst spät in der Nacht zurückgekommen. Jetzt schlief er aus und seine Mutter lief unglücklich und wie in Trance zwischen Herd und Esstisch hin und her.
"Nun setz dich endlich mal hin", schimpfte Lisa. "Du bist ja völlig von der Rolle." Und zu Inge gewandt: "Kannst du mir mal die Schüssel oben aus dem Schrank reichen, damit ich die Rühreier rein tun kann?"
Inge reckte sich, konnte aber ihren Arm nicht heben, nur ein bisschen. Verblüfft meinte sie: "Ich schaffe das nicht."
Lisa schüttelte den Kopf und ging selbst zum Schrank. "Du solltest mal einen Arzt aufsuchen. Das ist doch nicht das erste Mal. Vielleicht hast du ja Rheuma."
Aber Inge glaubte das nicht so recht.
Cosima, aber auch ihr Mann Stephan, konnten es gar nicht abwarten, endlich wieder nach Hause zu fahren. Sie hatten nichts erreicht, kein Geld bekommen, keine Zusagen. Als sie sich am ersten Weihnachtstag am frühen Nachmittag fast eilig verabschiedeten, kam Maren noch einmal zu ihrer Großmutter zurück. "Entschuldige das Verhalten von Mom und Dad. Eigentlich wollten wir ja noch bis morgen bleiben. Aber sie sind sauer, weil sie von dem Lottogeld nichts abbekommen haben."
"Ich weiß", erwiderte Lisa traurig. "Aber soviel Geld war es nicht, und du weißt, dass wir es durch sechs teilen mussten."
"Ja, aber Mom meinte, dass sie wenigstens vom Wohnungsverkauf etwas hätten bekommen müssen."
"Warum das?" meinte Lisa erstaunt. "Diese Wohnung haben dein Großvater und ich uns erarbeitet. Dein Vater hat eine exzellente Ausbildung von uns finanziert bekommen und verdient genug, auch deine Mutter. Sie müssen wahrlich nicht hungern. Brauchst du Geld?" Sie hielt ihre Enkelin eine Armlänge von sich fort und schaute ihr besorgt in die Augen.
"Nein Oma, aber ich habe Angst, dass du uns jetzt böse bist."
"Ach was", meinte Lisa nicht ganz ehrlich, "aber du bist uns hier jederzeit willkommen. Das weißt du hoffentlich."
Maren strahlte. "Das ist gut", antwortete sie erleichtert. "Ich komme bestimmt öfter mal hierher. Ist ja nicht weit."
"Jederzeit!" sagte Lisa und meinte es dieses Mal wirklich ehrlich.
Jonas machte keine Anstalten, den Hof und die Frauen zu verlassen. Anne freute sich zwar, aber sie spürte, dass ihre Freundinnen ihn als Fremdkörper empfanden. Er schlief meist bis Mittag in dem kleinen Raum über dem Stall, kam dann ungewaschen und mit meist schlechter Laune zum Essen, aber beteiligte sich an keiner Hausarbeit. Abends fuhr er meist weg und keine wusste, wohin. Allerdings waren die Frauen erleichtert, dass sie nicht die Abende mit ihm verbringen mussten.
"Willst du deinen Sohn nicht mal fragen, wann er wieder fährt?" fragte Lisa ihre Freundin denn auch. Die anderen waren dabei und warteten ebenfalls auf eine Antwort. Anne schaute unglücklich drein. Sie war hin- und hergerissen. Sie spürte ja auch, dass sich keiner mehr so recht wohl fühlte, solange ihr Sohn noch hier war. Selbst Trigger, der gutmütige Trigger, fing an zu knurren und ließ es sich nicht gefallen, wenn Jonas ihn am Halsband nehmen und irgendwohin dirigieren wollte.
"Das solltest du lieber bleiben lassen", meinte Ursa ruhig, als sie es sah. "Er mag keine Männer." Sie lehnte lässig im Türrahmen und hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt.
"Scheißköter", zischte Jonas nur, drängelte sich ruppig an ihr vorbei und verließ das Haus. Trigger kam schwanzwedelnd zu ihr, und sie strich ihm gedankenverloren über den Kopf.
Silvester kam, und Jonas war immer noch auf dem Hof.
"Warum fährt dein Sohn nicht endlich", fragte dieses Mal Ursa. "Meinst du, es hebt die Stimmung, wenn er heute Abend mit am Tisch sitzt und Fondue isst?"
"Ich habe ja schon mit ihm gesprochen", murmelte Anne, die sonst so resolute Anne. "Er hat mir versprochen nach Silvester wieder nach Hamburg zu fahren."
Ursa nickte und verließ das Zimmer, gefolgt von Trigger, ihrem tierischen Schatten.
Abends fuhr Jonas wieder fort, und die Frauen waren erleichtert.
Später, bevor sie alle gemeinsam gemütlich am großen Tisch Fondue essen wollten, gingen Ursa und Amelie noch mal mit den Hunden zum Strand. Schon auf dem Rückweg zog Micki wie verrückt an der Leine. Trigger, der sonst kaum einen Laut von sich gab, wuffte mehrmals und verschwand in der Dunkelheit. Jonas war inzwischen zurückgekehrt, aber er war nicht allein. Zwei Männer, ungefähr in Jonas´ Alter, waren bei ihm.
"Was ist hier los?" fragte Ursa beim Betreten des Hauses und versuchte, Festigkeit in ihre Stimme zu legen. Sie hielt Trigger am Halsband, dessen Nackenhaare sich steil aufgerichtet hatten.
"Was hier los ist? amüsierte sich Jonas, "ich bin zu Besuch bei meiner Mutter!"
An seiner Aussprache bemerkte Ursa, dass er betrunken war und sie sah auch, dass ihre Freundinnen wie gelähmt wirkten. Wie lange mochten diese Kerle wohl schon hier sein?
"Setz dich", zischte einer der fremden Männer.
Amelie schlüpfte ängstlich an Ursa vorbei und setzte sich zu den Freundinnen. Doch Ursa reagierte nicht darauf, sondern wandte sich an Jonas. "Ich glaube, du und deine Freunde verschwindet jetzt." Innerlich zitterte sie vor Angst und hielt sich deshalb mit einer Hand am Türrahmen fest, die andere klammerte sich nach wie vor an Triggers Halsband, der gar