rief Isabelle.
„Was ist? Gefällt es dir nicht?“, fragte Tanja ihren Kopf hebend.
„Doch sehr. Aber erstens wird alles nass und ich muss noch auf die Strasse und zweitens müssen wir Ben finden. Da stimmt was nicht.“
„Ach, musst du so gewissenhaft sein?“
„Ja, er ist unser Freund. Zudem habe ich ihm gestern sehr zugesetzt. Das Sedativum könnte immer noch ein bisschen anhalten. Hoffentlich fährt er nicht Auto.“
„Er hat keines“, beruhigte Tanja. „Ok, suchen wir ihn. Aber wo? Hast du eine Ahnung, wo er sich rumtreiben könnte?“
„Nein, ich dachte eher du könntest das wissen. Du kennst ihn schon länger als ich.“
„Das ist wahr, aber ich kann dir auch nicht helfen. Da sieht man wieder, wie viel man oder besser gesagt, wie wenig man von einem Menschen weiss, obwohl man den ganzen Tag mit ihm zusammen ist. Erschreckend!“
„Du bist nicht die Einzige, der es so geht. So geht es den meisten. Jeder ist mit sich und seinen Angelegenheiten beschäftigt.“ Isabelle zuckte mit den Schultern.
Sie schaute sich im Wohnzimmer um, ob sie irgendeinen Anhaltpunkt finde, wo Ben sich hinbegeben hatte. „Da ist so sauber aufgeräumt. Keine Zeitung oder Zeitschrift, kein Flugblatt, kein Werbeprospekt, nichts was einem weiter helfen könnte.“
„Ja, er ist schon ordentlich, unser Ben“, bestätigte Tanja.
„Wo packt er denn solches Zeug hin?“, fragte Isabelle und erhob sich. Sie ging ins Zimmer nebenan. Das schien das Büro zu sein, denn es stand ein Schreibtisch darin mit einem Flachbildschirm drauf. Alles ordentlich aufgeräumt. Sie zog eine Schublade raus, fand aber auch da keinen Anhaltspunkt.
So suchten sie die ganze Wohnung ab, fanden aber nichts Hilfreiches. Als Isabelle aus dem Schlafzimmer trat und in Richtung Wohnungstüre schaute, fiel ihr ein weisses Etwas auf, welches neben der Türe in der Sockelleiste steckte. Sie ging hin und betrachtete das Ding. Es steckte mit einer Ecke in der Sockelleiste. Isabelle zog es hinaus und sah, dass es sich um eine Visitenkarte handelte.
„Schau mal, Tanja, was ich gefunden habe, eine Visitenkarte“, rief sie Tanja.
„Ja, und was ist mit der?“
„Sie steckte dicht neben der Wohnungstüre in der Sockelleiste. Da gehört sie bestimmt nicht hin. Die muss runtergefallen sein.“
„Das kann Ben passiert sein.“
„Das glaube ich nicht. So penibel wie hier aufgeräumt ist. Der hätte die Karte auch gesehen, so wie ich sie gesehen habe.“
Was steht denn drauf?“
„Blöd, ja, ich könnte ja mal schauen, was draufsteht. Vielleicht hilft uns das weiter.“
Isabelle drehte die Karte um und las nun:
Madame Kala
Tarot-Kartenlegen
Pendeln, Wahrsagen
Lebenshilfe
Parkring 13, Zürich
„Die ist hier, in der Nähe unserer Firma“, rief Tanja. „Was hat Ben mit einer Wahrsagerin am Hut? Der ist so sehr Realist, dass er niemals zu so einer gehen würde.“
„Nein, er würde vermutlich nicht hingehen, aber sie zu ihm.“
„Wie kommst du denn auf die Idee?“, fragte Tanja verwundert.
„Weil ich die Frau kenne, wenn es wirklich die Madame Kala ist, die ich meine. Aber davon gehe ich stark aus.“
„Du…du…kennst sie?“
„Ja, leider.“
„Wieso leider? Komm erzähle, bitte. Was ist mit der? Was will sie von Ben?“, fragte Tanja ganz aufgeregt.
„Das ist eine lange Geschichte. Ich müsste dir viel von ihr und über mich und meine Familie erzählen. Dazu haben wir aber keine Zeit.“
„Du sprichst in Rätseln. Komm, ich bin deine Freundin. Mir darfst, nein, mir musst du alles erzählen.“
„Das werde ich auch, liebe Tanja. Aber nicht jetzt und heute. Wir müssen handeln und uns zu dieser Madame Kala begeben und sie beobachten. Ich denke, dass sie Ben gekidnappt hat!“
Im Verlies
Ben fürchtete sich nicht im Dunkeln, aber diese undurchdringliche Dunkelheit war ihm unheimlich. Er versuchte sich zu erinnern, was er von dem Raum gesehen haben könnte, bevor Leila die Türe hinter ihm verschlossen hatte. Er konnte sich nur schwach an die Bodenbeschaffenheit erinnern, da er, als ihr in das Dunkel trat, unwillkürlich zu Boden sah. Und der war mit Teppichboden ausgelegt.
Ben drehte sich um 180Grad, streckte die Arme aus und ging langsam zur Türe. Nach zwei kleinen Schritten hatte er die Wand erreicht. Sie war weich und mit Kunststoff überzogen Er suchte nach einem Schloss, einer Türfalle oder nach einem Riegel. Er fand nichts. Nicht mal den Ansatz einer Türe. Kein Licht und keine Luft drangen irgendwo herein. „Vermutlich auch noch schalldicht“, dachte er.
Er drehte sich mit dem Rücken zur Türe und lief langsam und vorsichtig mit ausgestreckten Armen los. Nach vier kleinen Schritten war er an der gegenüberliegenden Wand angekommen. Er untersuchte auch diese. Sie war ebenso weich und mit Kunststoff überzogen, wie die Wand, an der die Türe sein musste.
Die rechte Hand an der Wand, schritt er der entlang, die linke Hand ausgestreckt. Nach knapp zwei Schritten war er an einer Seitenwand. Auch diese war so ausgekleidet, wie die anderen, die er schon berührt hatte. Er lief nun rund herum, immer mit der rechten Hand Fühlung nehmend. Überall fühlte sich die Wand gleich an. Es gab nichts in diesem Raum als Dunkelheit, einen Teppichboden und er selbst.
Er wusste nicht mehr, wo er genau stand. Wo die Türe sein musste. Er wusste nur, dass er keinen Ausweg fand. Resigniert setzte er sich auf den Boden. „Ich sitze in einer kleinen Gummizelle“, sagte er leise vor sich hin.
„Und, hast du ihn im Verlies untergebracht?“, fragte Kala. Sie sass auf einem Diwan, hatte ein Glas Sekt in der Hand und schaute fragend auf die soeben eintretende Leila.
„Ja, sicher. Das war kein Problem. Er widersetzte sich zwar, wollte nicht mit mir Kaffeetrinken gehen. Da habe ich ihn einfach gepackt und unter Androhung von Polizei, wegen sexueller Belästigung, mitgeschleift.“
„Also nicht freiwillig? Das ist nicht gut.“
„Nun, er hat sich ganz in sein Schicksal ergeben und irgendwie war es schon freiwillig. Zumal er, als wir aus dem Tram raus waren, keine Probleme mehr gemacht hat. Er hat mich im Gegenteil ziemlich eindeutig gemustert.“
„Ja, du siehst ja auch sehr gut aus, bist jung und sexy und für einen Wollfetischisten warst du ja sensationell angezogen. Dazu hast du auch noch meine Parfum-Kreation ‚Temptation’ aufgetragen. Da musste ja die Maus in die Falle.“
Leila setzte sich in einen Polstersessel. Sie hatte sich umgezogen und trug einen sehr eng anliegenden, schwarzen Catsuit mit hohem, engem Rollkragen aus sehr dicker Angorawolle. Um ihre Wespentaille trug sie einen weissen, breiten Schal als Gürtel, dessen Enden auf der rechten Seite nieder fielen.
Ihre Füsse steckten in schwarzen Pantoffeln mit Keilabsatz. Die Haare hatte sie streng nach hinten gekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden.
„Willst du zuerst, oder soll ich?“, fragte Leila ihre Mutter. „Du hast es nötiger als ich.“
„Ja, ja, spiele nur wieder aufs Alter an“, sagte Kala wütend und aus ihren grünen Augen blitzte es.