einen anderen Ehemann suchen. Du bist sein Mündel! Hast du diese Möglichkeit denn gar nicht in Betracht gezogen?“, fragte Ester weiter.
Die Erkenntnis, dass Ester sie sofort durchschaut hatte und die Aussicht, dass Oliver ihr womöglich einen Ehemann suchen würde, versetzte Deria in panische Angst. Sie schluckte schwer. Alles war umsonst gewesen. Zwei Jahre hatte sie geglaubt, die perfekte Lösung gefunden zu haben und dann hatte ihr Vater alles zunichte gemacht. Jetzt liefen die Tränen in ihrem Gesicht hinunter.
„Ich weigere mich jemanden zu heiraten, der mich nicht liebt und den ich nicht liebe!“, schrie Deria und sah Ester trotzig an.
„Ach Deria, ich versteh dich ja. Aber wir Frauen müssen gehorchen. Du musst es Oliver sagen, bevor es zu spät ist.“
Tröstend legte Ester ihre Hand auf Derias.
„Das kann ich nicht, Ester. Er wird mich umbringen.“
„Das Beste ist, du schläfst erst einmal darüber. Morgen wirst du klarer sehen. Ich werde keinem Menschen etwas sagen. Aber sei auf der Hut. So wie ich wird der ein oder andere in dir ebenfalls mehr sehen, und das schneller als dir lieb ist. Komm, du kannst in Roys Bett schlafen.“
Ester brachte Deria zu dem Schlafplatz und räumte dann den Tisch ab. Es war eine verfahrene Situation, in die sich Deria gebracht hatte. Egal wie, sie würde ihr beistehen. Sie hatte das Mädchen sofort in ihr Herz geschlossen und konnte verstehen, dass Deria geliebt werden wollte.
Gerade als sie die Kerze löschen wollte, um in ihre Schlafkammer zu gehen, klopfte es an der Tür. Ester öffnete die Tür. Es war Oliver.
„Ester, ich grüße dich.“
„Oliver, was führt dich zu mir?“
Spannung lag in der Luft. Oliver hatte immer von der Affäre seines Vaters mit Ester gewusst, aber sie nie akzeptieren können.
„Ich suche mein Mündel Eric. Man sagte mir, dass er mit Stephen davongegangen ist.“
Der junge Burgherr trat nicht ein, schaute sich aber prüfend im Raum um.
„Ja, er ist hier und schläft nebenan. Ich hoffe, es macht dir nichts aus? Sonst wecke ich ihn auf“, meinte Ester.
„Nein, ich wollte mich nur vergewissern, dass er nicht verloren gegangen ist. Gute Nacht, Ester.“
Erst als die Tür vor seiner Nase geschlossen wurde, wandte er sich um und ging.
In dieser Nacht schlief Oliver unruhig. Er wälzte sich in seinem Bett hin und her. Er träumte von Eric und plötzlich wurde dieser zu Deria. Sie hatte auf einmal lange Haare, die in sanften Wellen an ihrem Rücken entlang flossen. Sie schaute ihn trotzig an, trat ihn gegen das Schienbein und brüllte:
„Ich bin nicht euer Leibeigener!“
Schlagartig war Oliver wach, ihm schmerzte das rechte Schienbein. Nicht Deria hatte das gesagt, sondern Eric, aber Eric sah aus wie Deria. Oliver musste unbedingt herausfinden, was es mit seinem Traum und seinem Verdacht auf sich hatte.
Bei Sonnenaufgang wurde Deria von Stephen geweckt:
„Eric, aufwachen, wir müssen die Pferde auf die Weide bringen.“
„Oh, lass mich noch ein bisschen schlafen“, murmelte Deria schlaftrunken.
„Nein, steh jetzt auf!“ Stephen zerrte an ihrem Hemd.
„Schon gut, schon gut, ich komm ja gleich.“
Deria setzte sich auf. Die wunden Stellen an den Innenschenkeln waren mit Schorf bedeckt und schmerzten nur noch ein wenig beim Gehen. Nach einem kleinen Frühstück brachen die beiden zu den Ställen auf, um die Pferde zu einer großen Weide zu führen.
Deria und Stephen zäumten die Pferde ab und setzten sich ins Gras.
„Und was machst du jetzt?“, fragte Deria neugierig.
„Ich bleibe eine Weile hier und passe auf. Dann mache ich die Ställe sauber, prüfe das Zaumzeug und repariere es.“
„Aha! Dann werde ich dir helfen.“
„Musst du nicht was anderes machen?“, fragte Stephen skeptisch.
„Nun, Oliver hat mir im Moment keine andere Arbeit gegeben.“ Und außerdem will ich ihn gar nicht sehen, vollendete Deria den Satz in ihren Gedanken.
Während sie auf der Wiese saßen, kamen auf einmal zwei Hasen herangehoppelt.
„Schau mal, die spielen Fangen“, rief Stephen und zeigte in Richtung der Tiere. Der erste Hase sprang dem zweiten davon, aber zwischendurch wartete er, bis der zweite ihn fast eingeholt hatte, bevor er erneut Haken schlagend flüchtete. Nach einer Weile verschwanden sie aus ihrem Blickwinkel.
Deria blieb den ganzen Tag bei Stephen. Wann immer sie bemerkte, dass Oliver in Sichtweite kam, versteckte sie sich. So ging Deria Oliver fast eine Woche aus dem Weg. Ihr war bewusst, dass sie nicht auf Dauer vor ihm davon laufen konnte. An den Abenden war sie hundemüde. Die Arme schmerzten von der ungewohnten Arbeit. Wie jeden Abend sah sie nach Aragon und wollte anschließend wieder zu Stephen und Ester gehen, beschloss aber dieses Mal noch eine Weile im Stall zu bleiben. Sie setzte sich auf einen Heuhaufen und schaute Aragon beim Fressen zu. Nach einer Weile wurden ihre Lider immer schwerer und schließlich schlief sie ein.
Deria wurde von einer Stimme geweckt, die ihren Namen rief:
„Deria, Schwester, wach auf!“
Mit einem Schlag war sie wach. Eric stand vor ihr. Er war zu einem jungen Mann herangewachsen, sein Kinn zierte ein rötlicher Bart und sein Körper war muskulös.
„Eric, wo kommst du auf einmal her?“, fragte Deria verwirrt und wollte aufspringen, doch Eric deutete ihr sitzenzubleiben.
„Deria, du musst Oliver die Wahrheit sagen“, riet Eric ihr eindringlich.
„Das kann ich nicht. Er wird mich umbringen, wenn er die Wahrheit erfährt“, flüsterte Deria mit Tränen erstickter Stimme.
„Deria, du musst es tun. Er ist deine Bestimmung.“
Mit diesen Worten verblasste die Gestalt. Deria blieb wieder allein zurück.
Ende der Maskerade
Oliver war verärgert. Ihm war sofort klar gewesen, dass Eric ihm absichtlich aus dem Weg ging. Sobald er in seine Nähe kam, verschwand er immer auf mysteriöse Weise. Bei Ester und Stephen war er nicht. Sie meinten, er wäre noch im Stall geblieben. Ohne zu zögern lief er dorthin.
Als Oliver den Stall betrat, hörte er eine verzweifelte Stimme. Er brauchte eine Weile, bis er den Sinn der Worte, die er erst fast nicht verstanden hatte, begriff. Mit wem hatte Eric geredet, fragte sich Oliver? Er schlich weiter und da sah er ihn schlafend auf einem Heuhaufen liegen. Er hatte den Arm ausgestreckt, als versuchte er jemanden zu berühren. Er träumt, schoss es Oliver durch den Kopf. Schweigend blieb er vor ihm stehen und betrachtete ihn einige Augenblicke. Dabei wanderte sein Blick vom Gesicht des Jungen über seinen Körper hinab zu den Füßen und wieder zurück. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Keulenhieb. Mit der linken Hand schlug er sich an die Stirn und murmelte:
„Was bin ich doch für ein Narr, dass ich mich so habe an der Nase herumführen lassen. Dieses Gesicht ist viel zu zart für einen Jüngling.“
Olivers Blick glitt nochmals ungläubig über die schlafende Gestalt und blieb an den nackten Füßen hängen.
„Was für schmale Fesseln... oh, dieses Weibstück!“
Er ballte die Fäuste vor Zorn. Am liebsten hätte er Eric, nein Deria, geschüttelt bis ihr Hören und Sehen verging. Bevor er seine Beherrschung verlor, stürzte er aus dem Stall. Rastlos lief er im Mondlicht auf und ab.
„In was für eine Situation hat mich dieses Frauenzimmer nur gebracht.“
Nun hatte Oliver zwei