„Oliver, mein zukünftiger Schwager. Was führt dich zu uns?“
Er schlug Oliver kameradschaftlich auf die Schulter. Diese Begrüßung machte Olivers Vorhaben nicht leichter, im Gegenteil: Seine Schuldgefühle verstärkten sich. Und das habe ich alles diesem verlogenen Weibstück Deria zu verdanken, dachte er. Gemeinsam traten sie in die große Empfangshalle und Sir Howard kam auf sie zu.
„Oliver, welch angenehme Überraschung. Du kommst gerade recht zum Essen.“
Auch diese Begrüßung war sehr herzlich. Sie setzten sich an den höchsten Tisch, der nur für die Familienmitglieder und Ehrengäste vorbehalten war.
Wie ein Engel eilte Alicia herbei. Sie trug ihr hellblondes Haar in einem langen Zopf, in dem ein blaues Band eingeflochten war. Das Obergewand war in dem gleichen sanften Blau, das auch der Farbe ihrer Augen entsprach. Als sie Oliver die Hand zum Gruß reichte, schlug sie errötend die Augen nieder. Er war von ihrer Erscheinung wie bezaubert und mit Bedauern dachte er daran, dass es ihm nicht vergönnt sein würde, Alicia auch nur einen Kuss zu rauben.
Beim Essen erzählte er von den Ereignissen der letzten Tage, dem Tod Sir Roberts sowie seiner neuen Eigenschaft als Vormund für Eric. Dann wurde noch über die gegenwärtigen Vorkommnisse gesprochen.
König Rufus hatte wieder die Steuern erhöht und es wurde immer schwieriger für alle, diese zu entrichten.
„Es ist eine Schande. Selbst für uns, die wir reiche Güter haben, ist es fast unmöglich diese Beträge aufzuwenden“, schimpfte Sir Howard.
„Ja, da hast du Recht. Doch bleibt uns nichts anderes übrig, sonst würden wir wie einige andere der Rebellion bezichtigt“, pflichtete Oliver ihm bei.
„Vater, Oliver, wie könnt ihr das einfach so hinnehmen? Der König ist ein selbstgefälliger Herrscher, der unser Land ins Verderben zieht“, ereiferte sich Donald.
„Sprich nicht so!“, ermahnte ihn sein Vater.
„Euer Verhalten ist das eines feigen Waschweibs“, schoss Donald zurück. Er hatte schon ein paar Becher Wein getrunken.
Oliver erhob sich, die rechte Augenbraue vor Wut nach oben gezogen. Seinen Rittern war dies nicht verborgen geblieben und so taten sie es ihrem Lehnsherrn gleich. Bevor jedoch jemand reagieren konnte, zischte Alicia ihrem Bruder zu:
„Werde erst einmal ein richtiger Mann, bevor du wahre Männer beleidigst. Oliver, ich bitte um Entschuldigung für die Äußerungen meines Bruders.“
Sie hatte ihre Hand auf seinen Arm gelegt, dessen Finger bereits den Griff seines Schwertes umschlossen hatte. Oliver atmete mehrfach tief ein und aus, dann setzte er sich. Seine Gesichtszüge entspannten sich jedoch nur unmerklich.
„Alicia, ich habe mit dir und deinem Vater zu sprechen, allein!“
Er sprach es mit einer unmissverständlichen Härte aus, die beide leicht zusammen fahren ließ.
„Aber gerne doch“, erwiderte Sir Howard sich räuspernd und erhob sich. Er führte beide in einen großen Raum, in dem an den Wänden wunderschöne Teppiche mit Jagdmotiven hingen.
„Auch wenn es so aussehen mag, dass ich auf die Äußerungen deines unreifen Sohnes reagiere, versichere ich vorab, dass diese Angelegenheit damit absolut nichts zu tun hat.“
Sir Howard saß in einem breiten Stuhl mit hoher Rückenlehne und Alicia hatte auf einem kleinen Rundhocker Platz genommen.
Oliver holte tief Luft, bevor er sprach:
„Sir Howard, als ich im vergangenen Herbst um die Hand deiner bezaubernden Tochter angehalten habe, war ich im guten Glauben ein freier Mann zu sein.“ „Was soll das heißen?“, fragte Sir Howard misstrauisch.
Die Richtung des Gesprächs, die Oliver einschlug, gefiel ihm ganz und gar nicht.
„Wie du sicher weißt, habe ich vor vier Jahren Lady Deria Eddings ein Eheversprechen gegeben.“
„Ja, aber sie ist doch während der großen Seuche gestorben, hast du mir erzählt“, fuhr Sir Howard unwirsch dazwischen.
„Vater, ich bitte dich, lass ihn aussprechen.“
Alicia ahnte, worauf Oliver hinaus wollte. Doch darüber war sie gar nicht unglücklich. Sie liebte schon seit einiger Zeit einen anderen Ritter und hatte ihm auch beigelegen. Sie fürchtete sich davor, was Oliver tun würde, wenn er dies in der Hochzeitsnacht feststellen würde. Es war ihr ein Gräuel auch nur daran zu denken, dass ein anderer Mann als ihre heimliche Liebe sie berühren könnte.
Mit einem bösen Blick auf seine Tochter nickte Sir Howard jedoch zustimmend in Olivers Richtung.
„Ja, das haben wir alle gedacht. Doch Lady Deria hat ihren Vater und auch mich getäuscht. Es war Eric, der damals an dem Fieber gestorben ist. Sie hat seine Rolle angenommen, um der vorbestimmten Ehe mit mir zu entgehen. Durch einen Zufall habe ich erst gestern bemerkt, wer tatsächlich mein Mündel ist.“
„Bei Gott“, entfuhr es Alicia und erschrocken hob sie ihre Hand an den Mund.
„Aus diesem Grund sehe ich mich bedauerlicherweise gezwungen, die Verlobung mit Alicia zu lösen, da ich bereits an ein Versprechen gebunden bin, dass einen älteren Rechtsanspruch hat.“
Oliver fuhr sich nervös durch die Haare. Es war totenstill im Raum. Sir Howard blickte den jungen Wallace ernst an und rieb sich nachdenklich sein Kinn. Er überlegte, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Konnte er Oliver einen Vorwurf machen? Nein, denn er verhielt sich gewiss ehrenhaft. Er musste eine Wahl treffen und hatte sich zu Gunsten des länger bestehenden Versprechens entschieden. Sir Howard warf einen Blick auf seine Tochter und war erstaunt, als er das Leuchten in ihren Augen sah. Sie war ganz und gar nicht unglücklich, geschweige denn traurig. Was hatte das zu bedeuten? Seufzend antwortete er dem ungeduldig und unsicher dreinblickenden Oliver:
„Nun, Oliver. Ich bin natürlich sehr enttäuscht. Aber nicht von dir, sondern von deiner zukünftigen Frau. Sie war sehr unvernünftig und ich hoffe für dich, dass du diese Entscheidung nicht bereuen wirst.“
Oliver atmete erleichtert aus.
„Ich danke für dein Verständnis, denn mir ist weiterhin an deiner Freundschaft viel gelegen.“
Dabei reichte Oliver dem Älteren die Hand. Howard ergriff diese ohne zu zögern. Dann wandten sich beide Alicia zu.
„Oh, ich … ich wünsche dir Glück, Oliver, und ich bin ehrlich gesagt auch dankbar. Ich … ich fühle mich noch nicht reif genug für die Ehe.“
Sie senkte ihren Blick und hoffte, dass man ihr diese Lüge abnahm.
„Dann lasst uns noch ein wenig feiern. Denn immerhin wirst du so oder so bald verheiratet sein“, meinte Sir Howard und schlug ihm aufmunternd auf den Rücken.
Am nächsten Morgen erzählte Howard seinem Sohn von dem Gespräch. Donald verlor die Beherrschung:
„Das ist eine Beleidigung uns gegenüber, Vater! Wie konntest du das so einfach hinnehmen?“
„Aber Donald, er hat sich ehrenhaft verhalten. Da die erste Verlobung noch gültig ist, muss er Deria heiraten.“
„Das hat unser Haus nicht verdient. Verflucht, er hätte sie ja mit jemand anderem verheiraten können.“
Donald war ein junger Hitzkopf und fühlte sich persönlich abgewiesen. Er schwor sich, diese Schmach zu rächen.
Derweil bekam Deria ihre Gemächer gezeigt. Es waren zwei Räume, die durch eine Tür miteinander verbunden waren. Die Fenster im Schlafgemach zeigten auf die Rückseite der Burg, sie konnte die Wiese überblicken und hinter dem Steinwall den Wald.
„Was für eine herrliche Aussicht“, sagte sie erfreut.
„Schön, dass es dir gefällt“, erwiderte Guy.
„Wessen Räume befinden sich noch auf diesem Gang?“, fragte sie neugierig. Ihr waren