Auch außerhalb des Bauleitplanverfahrens begründete Vorentscheidungen können einen Abwägungsausfall begründen. Es entspricht der Wirklichkeit der Planungspraxis, dass Gemeinden bereits zu Beginn eines Bauleitplanverfahrens vielfältigen Bindungen, etwa durch Absprachen mit Investoren, unterworfen sind, die die Planungsoptionen erheblich einschränken[445]. Diese Bindungen sind einerseits in vielen Fällen unvermeidlich, laufen aber andererseits den Anforderungen des Abwägungsgebots in der Tendenz zuwider[446]. Es besteht die Gefahr, dass die Gemeinde aus sachfremden, in den Vorabbindungen begründeten Erwägungen heraus bereits keine substantielle Abwägung mehr vornimmt. In diesem Fall handelt es sich um einen Abwägungsausfall. Möglich ist auch, dass sie im Rahmen der Abwägung Gewichtungen vornimmt, die den Anforderungen an die Abwägung nicht genügen, entweder weil Belange berücksichtigt werden, die nicht berücksichtigungsfähig sind (Abwägungsdefizit), oder weil ihnen ein Gewicht beigemessen wird, das ihnen bei objektiver Betrachtung nicht zukommt (Abwägungsfehleinschätzung). Auf den äußersten Fall der Vorabbindung, die vertragliche Begründung einer Verpflichtung zur Aufstellung von Bauleitplänen reagiert § 1 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 BauGB demgemäß auch mit einem Verbot[447]. Allerdings weist die Planungspraxis durchaus vielfältige Beispiele von Vorabbindungen auf, die unterhalb der Schwelle der vertraglichen Verpflichtung zur Aufstellung eines Bauleitplans bleiben, gleichwohl aber schwere Bedenken bezüglich der verbleibenden Entscheidungsfreiheit der kommunalen Organe erzeugen. Auch wenn das Interesse an der Einbindung Privater in städtebauliche Entwicklungsprozesse nicht übersehen werden darf, sind etwa gegen Vereinbarungen zur Zahlung von Schadensersatz im Falle des Nichtzustandekommens eines Bebauungsplans Bedenken zu erheben[448].
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Bereits in der Flachglasentscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht Kriterien definiert, unter denen Vorabbindungen zulässig sein können. Erforderlich ist danach zunächst, dass die Vorwegnahme von Teilen der Entscheidung sachlich gerechtfertigt ist. Weiterhin muss die Zuständigkeitsordnung gewahrt bleiben, also insbesondere nötigenfalls der Gemeinderat die vorweggenommene Entscheidung treffen. Und schließlich darf die Entscheidung inhaltlich nicht zu beanstanden sein, muss also vor allem den Anforderungen des Abwägungsgebots genügen[449]. Zu Recht wird ergänzend gefordert, dass im Rahmen des „informellen“ Vorverfahrens auch eine Kompensation für die Öffentlichkeitsbeteiligung erfolgt, da dieses Verfahrenselement durch die bereits getroffene Vorentscheidung in seiner Wirksamkeit deutlich eingeschränkt wird[450].
bb) Abwägungsdefizit
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Ein Abwägungsdefizit ergibt sich dann, wenn nicht alle Belange berücksichtigt werden, die nach Lage der Dinge in die Abwägung einzustellen gewesen wären. Im Mittelpunkt dieser Anforderung steht also die Zusammenstellung des Abwägungsmaterials. Wie gesehen besteht diesbezüglich kein Entscheidungsspielraum der Gemeinde. Sie unterliegt vollständiger gerichtlicher Kontrolle[451].
(1) Zu berücksichtigende Belange
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§ 1 Abs. 7 BauGB enthält keine Konkretisierung der abwägungserheblichen Belange. Auch der Hinweis, dass es sich um öffentliche und private Belange handeln kann, stellt keine Eingrenzung dar, da dies alle theoretisch relevanten Belange einschließt. Als Belange kommen nicht lediglich Rechtspositionen in Betracht. Auch bloße Interessen, die nicht zum Recht erstarkt sind, sind in die Abwägung mit einzubeziehen[452]. Vermittels der drittschützenden Wirkung des Abwägungsgebots können sie auf diese Weise sogar zum Anknüpfungspunkt für ein Rechtsschutzbegehren werden (siehe dazu unten Rn. 268)[453]. Welche Belange konkret in die Abwägung einzubeziehen sind, lässt sich nur mit Blick auf den Einzelfall bestimmen[454].
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Allerdings liefert das BauGB durchaus vielfältige Anhaltspunkte für zu berücksichtigende Belange. Zunächst enthält § 1 Abs. 5 BauGB eine Reihe von Zielvorgaben[455], die mit der Bauleitplanung verfolgt werden können. Zentrales Ziel ist zunächst die nachhaltige städtebauliche Entwicklung. Dieses Ziel bezieht seine besondere Bedeutung aus der Bindung der Bauleitplanung an die städtebauliche Erforderlichkeit nach § 1 Abs. 3 BauGB[456]. Daneben sind die Gewährleistung der sozialgerechten Bodennutzung, die Sicherung einer menschenwürdigen Umwelt, der Schutz und die Entwicklung der natürlichen Lebensgrundlagen, der Klimaschutz sowie die baukulturelle Erhaltung und Entwicklung der städtebaulichen Gestalt und des Orts- und Landschaftsbildes[457] genannt. § 1 Abs. 5 S. 3 BauGB sieht ferner vor, dass die städtebauliche Entwicklung vorrangig durch Maßnahmen der Innenentwicklung erfolgen soll. Diese Ziele können durchaus miteinander kollidieren. Ihr hoher Abstraktionsgrad bedingt, dass sie eher einen allgemeinen Bezugsrahmen für die Bauleitplanung bilden. Deutlich wird in jedem Fall, dass die zu berücksichtigenden Belange einen städtebaulichen Bezug aufweisen müssen[458].
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Neben den noch sehr abstrakten Planungszielen des § 1 Abs. 5 BauGB enthalten die §§ 1 Abs. 6, 1a BauGB noch weitere konkrete Anhaltspunkte. Insbesondere § 1 Abs. 6 BauGB enthält eine Aufzählung möglicherweise zu berücksichtigender Abwägungsbelange[459], die zum Teil die Zielsetzungen des § 1 Abs. 5 BauGB konkretisiert, zum Teil darüber hinausgehend auch neue Aspekte nennt[460]. Aufgrund ihrer Ausführlichkeit kann die Regelung durchaus als eine „Checkliste“ betrachtet werden, anhand derer die Gemeinden im Ausschlussverfahren feststellen können, ob sie alle relevanten Aspekte ihrer Planung einbezogen haben. Auch wenn diese Aufzählung von Belangen die meisten in der Bauleitplanung denkbarerweise zu berücksichtigenden Belange umfassen dürfte, ist sie nicht abschließend[461]. Andere Belange können somit ebenfalls in die Planung Eingang finden[462]. Weiterhin verschafft die Liste den hier genannten Belangen auch keinen abstrakten Vorrang in der Abwägung[463]. Der Umstand, dass der Gesetzgeber diese Belange ausdrücklich benannt hat, verleiht ihnen jedoch entsprechendes Gewicht. Das Gleiche gilt für weitere Abwägungsbelange, die in § 1a Abs. 2, 3 und 5 BauGB genannt werden. Weiterhin erwähnt das Gesetz in Form des interkommunalen Abstimmungsgebots des § 2 Abs. 2 BauGB auch die städtebaulichen Interessen der Nachbargemeinden als ausdrücklich zu berücksichtigenden Belang. Hierbei kommt es allein auf die Auswirkungen der Planungen einer Gemeinde auf das Gebiet einer anderen, nicht hingegen auf ein unmittelbares Angrenzen der Gemeinden an[464]. Die Rechtsprechung vertritt den Standpunkt, bei den Planungszielen des § 1 Abs. 5 BauGB und den in § 1 Abs. 6 BauGB aufgezählten Belangen handele es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, bei deren Anwendung durch die Kommunen kein Beurteilungsspielraum bestehe[465]. Dieser Standpunkt wird in der Literatur mit Hinweis auf den Abwägungsvorgang und den planerischen Gestaltungsspielraum bestritten[466]. Wegen der geringen Steuerungswirkung der Regelungen des § 1 Abs. 5 und 6 BauGB und ihrer mangelnden Exklusivität dürfte die praktische Relevanz dieses Streits indes letztlich gering sein.
(2) Abwägungsbeachtlichkeit
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Welche Belange konkret in die Abwägung einzubeziehen sind, bestimmt sich nach den Gegebenheiten des Einzelfalls[467]. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Bestimmung des einzubeziehenden Abwägungsmaterials ist dabei gemäß § 214 Abs. 3 S. 1 BauGB die Beschlussfassung über den Bauleitplan[468]. Ganz wesentlichen Einfluss auf die Zusammensetzung des zu berücksichtigenden Abwägungsmaterials hat das Bauleitplanverfahren. Dieses dient nicht zuletzt der Informationsbeschaffung und damit der Sichtbarmachung von Betroffenheiten[469]. Den Zusammenhang zwischen den Beteiligungselementen des Bauleitplanverfahrens und der Abwägung bringt vor allem § 4a Abs. 1 und 6 BauGB deutlich zum Ausdruck.
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Allerdings erschöpfen sich die zu berücksichtigenden Belange nicht in dem im Rahmen der Beteiligungselemente des Bauleitplanverfahrens zusammengestellten Abwägungsmaterial. Grundsätzlich trifft die Gemeinden auch eine Ermittlungspflicht. Dies kommt auch