etwas.
Martin hielt inne und horchte wieder.
Noch immer drang kein Laut heraus. Dann drückte er die Klinke ganz herunter und öffnete die Tür.
Zuerst wagte er kaum hinzuschauen; er hatte Angst, dass das Jüngste Gericht auf ihn herniederfahren würde. Doch als nichts geschah, riskierte er einen Blick.
Der Graf war nirgendwo mehr zu sehen. Nur sein seltsamer Geruch schwebte noch in dem engen, niedrigen Zimmer.
Pater Hilarius lag auf dem Boden.
Er gab kein Lebenszeichen mehr von sich.
3. Kapitel
Sie hatte Hunger. Seit sie gestern Morgen nach Volkach gekommen war, hatte sie nichts mehr gegessen. Das Einzige, was ihr den Magen gefüllt hatte, war das schal schmeckende Wasser aus dem Brunnen am Marktplatz gewesen. Es war Maria nicht einmal gelungen, eine Mohrrübe oder eine Gurke zu stehlen; die Händler passten auf ihre kümmerlichen Waren auf wie der Teufel auf seine gefangenen Seelen.
Auch der strahlende Sonnenschein vermochte Maria nicht aufzuheitern. Dieses Städtchen mit seinen verwinkelten Gassen und seiner unebenen Pflasterung, in deren Mulden stinkende Abfälle schwammen, war nicht nach ihrem Geschmack, aber sie hatte gehofft, hier wenigstens für einige Tage Proviant und vielleicht sogar eine wohlgefüllte Geldkatze zu finden. Doch stattdessen drohte sie inmitten der quiekenden Schweine, der blökenden Schafe, der gackernden Hühner und all der Köstlichkeiten des Feldes zu verhungern.
Sie saß auf den kalten Stufen des Brunnens und stützte den Kopf in die Hände. Wenn das Leben gerecht wäre, würde einer der Bauern, die auf dem Marktplatz lautstark ihre Waren anpriesen, sich ihrer erbarmen und ihr etwas zustecken. Doch selbst auf demütigste Fragen und Bitten hin hatten sie das junge Mädchen mit den hübschen braunen Locken und den genauso braunen Augen weggejagt wie einen räudigen Hund. Nein, das hier war kein guter Ort – weder für jemanden, der auf die Gunst anderer angewiesen war, noch für jemanden, der bereit war, sich diese Gunst zur Not auch unrechtmäßig zu verschaffen.
Doch da trat ein Licht in das Leben Marias.
Keine zehn Meter von ihr entfernt ging ein hochgewachsener, dürrer Herr in einem verschwenderisch bestickten Umhang über den Markt und warf nur rasche, beiläufige Blicke auf das reichhaltige Angebot. Maria amüsierte sich über seinen wunderlichen Kopfputz: eine riesige Pfauenfeder hing von seinem Barett herab und nickte wie aus eigener Kraft, ob der Herr nun den Kopf bewegte oder nicht.
Er roch nach Geld, ja er stank geradezu danach.
Sofort stand Maria auf. Ihre Gedanken überschlugen sich. Niemand grüßte den vornehmen Herrn, der von Zeit zu Zeit stehen blieb und in die Runde blickte, als suche er jemanden, wobei er jedes Mal geistesabwesend mit dünnen, langen Fingern durch seinen sauber geschnittenen Bart fuhr. Bestimmt war er kein Einheimischer. Wie konnte sie an ihn herankommen? Sie war sicher, dass er einen gut gefüllten Geldsack um den Bauch trug – einen Sack, von dessen Inhalt Maria monatelang leben könnte. Sie schritt die zwei Stufen der Brunneneinfassung herunter und tat so, als suche auch sie etwas, bis sie sah, dass der vornehme Herr sich wieder in Bewegung setzte.
Sie stürzte ihm so schnell nach, dass sie fast mit einem Bauern zusammengestoßen wäre, der ein laut grunzendes Schwein an der Leine führte. Maria schlug einen kleinen Haken, taumelte und musste sich an einem finster dreinblickenden Mann festhalten, der wie ein Scharfrichter aussah.
Als sie wieder nach vorn schaute, war der vornehme Herr verschwunden.
Maria stieß einen Seufzer der Verzweiflung aus. Obwohl sie doch gar keinen Plan gehabt hatte, wie sie ihn berauben konnte, hatte sie sich schon im Besitz seines unanständig vielen Geldes gesehen. Wo mochte er nur abgeblieben sein?
Da sah sie ganz hinten, am anderen Ende des Marktes eine über allen Häuptern tanzende Feder. Das musste er sein. Wie schnell er doch war! Maria lief auf die wippende Feder zu. Als sie ihr Ziel schon beinahe erreicht hatte, kam ihr eine Idee.
Sie hielt sich ein wenig hinter dem hoch aufgeschossenen Mann, der nun den Marktplatz verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er bog in eine schmale Gasse ein, in der sich nur wenige Läden befanden. Das war der ideale Ort.
Maria war nun so nahe hinter ihm, dass sie ihn mit der ausgestreckten Hand hätte berühren können. Dann überholte sie ihn, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Plötzlich stieß sie einen hohen Schmerzenslaut aus und sackte zusammen. Der vornehme Herr blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Dann beugte er sich über sie, streckte die Hand nach ihr aus und sagte mit einer tiefen, vollen Stimme:
»Hast du dich verletzt, mein schönes Kind?«
»Ach, es ist nicht so schlimm, edler Herr«, gab Maria zurück und schaute hoch zu ihm. »Ich habe mir nur den Fuß verrenkt. Könntet Ihr mir bitte aufhelfen?«
Sie ergriff die ihr dargebotene Hand und hängte sich schwer daran. Der Mann zog sie wieder auf die Beine, doch sie knickte erneut ein und packte ihren Retter, um sich an ihm festzuhalten. Blitzschnell steckte sie eine Hand unter seinen Umhang. Sofort hatte sie die Geldkatze ertastet. Sie hing an einem Lederriemen von einem schweren Gürtel herab. Doch der Riemen war nicht mit dem Gürtel vernietet, sondern nur um ihn gebunden.
»Verzeiht mir, es tut so weh«, keuchte Maria.
»Oh, du ärmstes Kind«, sagte der Mann voller Mitleid. Vielleicht würde er ihr ja sogar freiwillig etwas geben, doch darauf wollte sie es nicht ankommen lassen. Jetzt hatten ihre schlanken, geschickten Finger die Schlaufe gelöst, und der kleine Beutel lag beruhigend schwer in ihrer Hand. Sie schloss die Finger darum und tat dann so, als befühle sie ihr rechtes Bein. Dabei zwängte sie den Beutel von unten unter ihren Rock.
»Kann ich etwas für dich tun, Perle des Nachmittags?«, fragte der dürre, elegante Herr galant. Sein Gesicht gefiel Maria nicht. Es hatte etwas Grausames an sich.
Du hast mir schon genug getan, vielen Dank, dachte sie und sagte: »Ihr seid zu gütig, mein edler Herr, aber ich bin bereits reich genug damit beschenkt, dass Ihr mir so uneigennützig geholfen habt.«
»Es wäre mir eine noch größere Freude, dir auch in anderer Weise zu helfen.«
Einen Augenblick lang glaubte Maria, dass dies die Aufforderung zu einem Liebesdienst der besonderen Art sein sollte, doch ein weiterer Blick in sein merkwürdiges Gesicht genügte, um sie davon zu überzeugen, dass ihm nichts ferner lag als ein solcher Gedanke.
Aber was war, wenn er ihr ein Geldstück schenken wollte? Dann würde der Diebstahl unweigerlich auffallen!
»Ich brauche nichts, vielen Dank, edler Herr; Ihr seid einfach zu gütig«, sagte sie rasch und schlug die Augen nieder. Sie versuchte zu erröten, aber es wollte ihr nicht recht gelingen.
Schon tastete der Herr an seinem Umhang herum. Es wurde höchste Zeit für Maria, sich von ihm zu verabschieden. Sie trat einen Schritt von ihm zurück, sagte schnell: »Seht Ihr, es geht schon wieder«, und lief zurück zum Markt. Bei den ersten Schritten gab sie noch vor, zu hinken, doch je weiter sie sich von ihm entfernte, desto ungehinderter lief sie. Sie warf einen kurzen Blick zurück und wollte ihm zum Gruß noch einmal zuwinken – aber er war verschwunden. Vielleicht war er in einen der zur Straße hin völlig offenen Läden gegangen. Was ging es sie an!
Sie spürte den erregenden Druck der Geldkatze gegen ihre Hüfte und konnte es gar nicht mehr erwarten, ihre Reichtümer in Augenschein zu nehmen. In einer winzigen Sackgasse, in der es nicht einmal einen Laden gab und die Giebelhäuser so eng standen, dass sie kaum den Sonnenschein hineinließen, lehnte sie sich gegen eine Häuserwand, griff unter ihr Mieder und zerrte ungeduldig den schwarzen Beutel hervor. Sie zog die kleine, lederne Schnur auf und schüttete den Inhalt auf ihre Handfläche.
Es waren menschliche Zähne und welke Blätter.
Maria wusste nicht, welche Regung in ihr stärker war: Enttäuschung oder Entsetzen. Der Beutel war viel zu schwer gewesen, als dass er nichts außer den Dingen enthalten konnte, die nun in ihrer Hand lagen. Sie hatte schon oft von den Goldstücken