Heinrich Zschokke

Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke


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predige in der Kirche ebensoviel mir selber als anderen. Und geht keiner gebessert aus der Kirche, bin ich es doch; und schöpft keine Seele Trost aus meinen Worten, schöpfe ich ihn doch. Es geht dem Geistlichen, wie dem Arzt. Er kennt die Kraft seiner Arzneien, aber nicht immer ihre Wirkungen auf die Natur aller Kranken.

       An demselben Tage Vormittags.

      Am Morgen erhielt ich ein Billet, das mir ein Fremder aus dem Wirtshause schickte, welcher daselbst übernachtet hatte. Der Unbekannte bat mich wegen dringender Angelegenheiten auf einen Augenblick zu sich.

      Ich ging zu ihm. Es war ein hübscher junger Mann von etwa sechsundzwanzig Jahren, von edlen Gesichtszügen und vielem Anstande. Er trug einen alten, abgeschabten Überrock und Stiefel, an denen der gestrige Kot verhärtet war. Sein runder Hut, obwohl ursprünglich kostbarer als der meinige, war doch weit verdorbener und abgetragener. Der junge Mensch schien, ungeachtet seiner übelbestellten Kleidung, von gutem Hause zu sein. Er trug wenigstens ein sauberes Hemd vom feinsten Linnen, wenn es ihm nicht etwa von einer mildthätigen Hand erst verehrt worden war.

      Er führte mich in ein Nebenzimmer der Wirtsstube, bat tausendmal um Entschuldigung, mich bemüht zu haben, und entdeckte mir demütig, er sei in der bittersten Verlegenheit, kenne niemand in diesem Orte, wo er gestern Abend angekommen wäre, und habe deswegen seine Zuflucht zu mir, als Geistlichen, nehmen wollen. Er wäre, setzte er hinzu, seines Standes ein Komödiant, jetzt ohne Anstellung und im Begriff, nach Manchester zu reisen. Nun aber sei er mit seinem Gelde zu Ende, so daß er nicht einmal genug habe, den Wirt völlig zu bezahlen, geschweige nach Manchester zu kommen. Demnach wende er sich in der Verzweiflung an mich. Mit zwölf Schillingen wäre ihm geholfen. Er wolle mir, wenn ich ihm den Vorschuß machen könne, das Geld, sobald er wieder bei einem Theater angenommen sein würde, ehrlich und dankbar zurückstellen. Sein Name sei John Fleetmann.

      Er hätte nicht nötig gehabt, mir seine Not und Angst so ausführlich zu schildern. In den Zügen seines Gesichts lag noch mehr Kummer und Unruhe, als in seinen Worten. Allein in meinem Gesicht las er vermutlich etwas Ähnliches, denn wie er die Augen zu mir aufschlug, erschrak er und sagte:

      »Wollen Sie mich hilflos lassen?«

      Ich erklärte ihm nun ganz unumwunden meine Lage: daß er von mir nichts weniger als den vierten Teil meiner Baarschaft begehre, daß ich sogar in größter Ungewißheit über die fernere Dauer meines Amtes schwebe.

      Plötzlich kalt und wie in sich zurückgesunken, sagte er:

      »Sie rechnen einem Unglücklichen Ihr Unglück vor. Ich fordere von Ihnen nichts. Ist denn niemand anders in Crekelade, der, wenn auch keinen Reichtum, doch Mitleid hat?«

      Ich sah den Herrn Fleetmann mitleidig an und schämte mich ein wenig, ihm meine böse Lage vorgestellt zu haben, um dahinter ohne Erröten hartherzig sein zu können. Zugleich sann ich umher unter meinen Crekeladern und getraute mir nicht einen zu nennen. Ich kannte ihre Herzen vielleicht zu wenig.

      Dann trat ich ihm einen Schritt näher, legte meine Hand auf seine Schulter und sagte:

      »Herr Fleetmann, Sie thun mir leid! Haben Sie noch ein wenig Geduld! Sie wissen, wie arm ich bin. Ich will Ihnen helfen, wenn ich kann. In einer Stunde gebe ich Ihnen Bescheid.«

      Ich ging nach Hause. Unterwegs dachte ich: »Sonderbar, warum der Fremde sich eben an mich zuerst wendet und der Komödiant an einen Geistlichen! Ich muß etwas in meiner Natur haben, das den Instinkt der Unglücklichen und Begehrenden magnetisch anzieht. Denn was in Not ist, spricht mich an, der doch das Wenigste zu geben hat.«

      Daheim erzählte ich den Kindern, wer der Fremde sei und was er von mir begehre. Ich wollte Jennys Rat hören. Sie sagte mitleidig:

      »Ich weiß, Vater, was Du denkst, darum habe ich Dir nichts zu raten.«

      »Und was denke ich denn?«

      »Du denkst, ich will gegen den armen Komödianten sein, wie ich wünsche, daß Gott und der Doktor Snart gegen mich sein möchten.«

      Das hatte ich zwar nicht gedacht, aber ich wünschte es gedacht zu haben. Ich suchte die zwölf Schilling hervor und gab sie an Jenny, daß sie dem Reisenden die Gabe brächte.

      Ich mag nicht gern das leidige Danken mit anhören, weil es mich demütigt. Undank erhöht mich. Auch wollte ich mich nicht in der Ausarbeitung meiner Predigt stören lassen.

       An demselben Tage abends.

      Der Komödiant ist gewiß ein guter Mensch. Als Jenny vom Wirtshause zurückgekommen war, wußte sie viel von ihm zu erzählen, nicht minder auch die Wirtin. Diese Frau hat es sogleich herausgebracht, daß ihr Gast einen leeren Beutel habe, und Jenny konnte es ihr nicht läugnen, daß ich ihm etwas Reisegeld schicke. Da mußte Jenny eine lange Strafpredigt anhören über den Leichtsinn des Gebens, wenn man selbst nichts habe; über die Gefahr, Landstreicher zu unterstützen, wenn man die eigenen Kinder nicht kleiden könne; das Hemd sei näher, als der Rock; selber essen mache satt u. s. w.

      Ich war eben wieder an meiner Predigt, als Herr Fleetmann hereintrat. Er wollte, sagte er Crekelade nicht verlassen, ohne seinem Wohltäter zu danken, durch welchen er aus der peinlichsten Verlegenheit gerissen sei.

      Jenny war daran, den Tisch zu decken. Wir hatten Rüben und einen Eierkuchen. Ich lud den Reisenden ein, mit uns zu Mittag zu essen; er schlug es nicht aus. Er mochte es wohl nötig haben, denn er hatte sich im Wirtshause an seinem Frühstück schwerlich satt gegessen. Polly mußte Bier holen. Wir hatten lange nicht so gut gelebt.

      Herr Fleetmann schien sich bei uns zu gefallen; er hatte sein voriges Kummergesicht ganz verloren, doch blieb ihm das, unglücklichen Leuten eigene, schüchterne, verlegene Wesen. Er meinte, wir wären sehr glücklich, und das bestätigten wir auch; daß ich aber wohlhabender und reicher sei, als ich zu sein das Ansehen haben wollte, darin irrte er sich. Ohne Zweifel täuschte den guten Menschen die Ordnung und Reinlichkeit unserer Zimmer, die Klarheit der Fenster, die Sauberkeit der Vorhänge, des Tischgeräts, des Fußbodens, der Firniß unserer Tische und Stühle. In den Hütten der Armut pflegt man gewöhnlich den Unflath überall zu sehen, weil arme Leute nicht zu sparen wissen. Ordnung und Reinlichkeit aber, das predigte ich meiner seligen Frau und meinen Töchtern immer, sind die ersten aller Sparmittel. Jenny ist darin Meisterin.

      Unser Gast war mit uns allen bald sehr bekannt und traulich; doch sprach er weniger von seinem, als von unserm Schicksale. Der arme Mensch muß einen schweren Kummer auf dem Herzen haben, ich will nicht glauben, auf seinem Gewissen. Ich bemerkte, daß er oft plötzlich im Gespräch abbrach und sich verfinsterte, dann sich anstrengte, wieder heiter zu sein.

      Seine letzten Worte waren: »Es ist unmöglich, Ihnen kann es in dieser Welt nicht übel gehen; Sie haben den Himmel in der Brust und zwei Engel Gottes neben sich.«

      Bei den letzten Worten deutete er auf Polly und Jenny.

       Am 20. Dezember.

      Der Tag verstrich sehr ruhig, doch kann ich nicht sagen, angenehm. denn der Krämer Loster schickte mir die Jahresrechnung. Sie war für die bei ihm genommenen Waren größer, als wir erwartet hatten, obgleich wir nichts genommen, was nicht auch von uns aufschrieben worden wäre. Allein er hatte bei allen Artikeln im Preise aufgeschlagen; sonst traf seine Rechnung redlich mit der unsrigen zusammen.

      Das schlimmste ist der Rückstand meiner Schuld vom vorigen Jahre bei ihm. Er bat um Zahlung derselben, weil er in größter Geldverlegenheit sei. Die Gesamtsumme aber betrug achtzehn Schilling.

      Ich begab mich zu Herrn Loster. Es ist ein sehr höflicher und billiger Mann. Ich hoffte ihn mit einer Zahlung auf Rechnung zu beruhigen und versprach den Rest auf Ostern abzutragen. Er war aber nicht zu bewegen und bedauerte, daß ihn die Not zwingen könne, zu den äußersten Mitteln zu greifen. Wenn er es vermöchte, würde er gerne warten; allein binnen drei Tagen habe er einen Wechsel, der auf ihn ausgestellt sei, zu zahlen. Einem Kaufmanne gehe der Kredit über alles.

      Dagegen ließ sich nichts mehr einwenden, nachdem meine wiederholten Bitten eitel gewesen waren. Hätte ich es sollen gegen mich zu richterlicher Beitreibung kommen lassen, wie er drohte? Ich schickte ihm das