Heinrich Zschokke

Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke


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wir die Antwort des Herrn Withiel. Will er grausam sein, so sei er's; Gott ist ja auch im Gefängnisse. Vater! geh' Du in's Gefängnis; vielleicht hast Du es da besser als jetzt mit uns in dem Elend unseres Lebens. Geh', denn du gehst ohne Schuld! Schande ist dabei für Dich nicht; wir beide aber verdingen uns als Mägde und mit unserm Lohn wollen wir Dir alle Bequemlichkeiten verschaffen. Zuletzt schäme ich mich auch des Bettelns nicht. Für einen Vater zu betteln ist etwas Heiliges und Schönes. Von Zeit zu Zeit kommen wir und besuchen Dich; Du sollst gut verpflegt werden. Wir wollen uns nicht mehr fürchten.«

      »Jenny, Du hast Recht!« sagte Polly. »Wer sich fürchtet, glaubt an keinen Gott. Ich fürchte mich nicht; ich will recht froh sein, so froh, wie ich's, getrennt vom Vater und von Dir, sein kann.«

      Solche Reden erhoben mein Herz. Fleetmann hatte beim Abschiede Recht, als er sagte, ich hätte zwei Engel des Herrn zur Seite.

       Am Sylvestertage.

      Das Jahr ist geendet. Ich danke dem Himmel, es war mit Ausnahme einiger Stürme ein herrliches, ein freudenreiches Jahr! Zwar hatten wir oft kaum zu essen, doch wurden wir satt. Zwar kamen zu meinem elenden Gehalte oft bittere Sorgen, allein die Sorgen sogar machten ihre Freuden. Nun freilich habe ich kaum so viel Vermögen, um mir und meinen Kindern das Leben noch ein halbes Jahr lang zu fristen; allein wie viele Menschen haben nicht so viel und wissen nicht, wovon den nächsten Tag leben! Meine Stelle habe ich freilich verloren, bin in meinen alten Tagen ohne Amt und Brot . . . es ist möglich, daß ich künftiges Jahr im Gefängnisse wohnen muß, getrennt von meinen guten Töchtern . . . aber Jenny hat Recht, Gott wohnt auch im Gefängnisse! Einem reinen Gewissen ist selbst in der Hölle keine Hölle und schlechten Seelen ist selbst im Himmel kein Himmel. Ich bin sehr glücklich.

      Wer entbehren kann, ist reich. Ein gutes Bewußtsein geht über Ehre vor der Welt. Erst wenn man, was die Leute Schande und Ehre zu nennen pflegen, gleichgültig ansehen kann, ist man recht ehrwürdig. Wer die Welt verschmähen kann, hat den Himmel. Ich verstehe das Evangelium von Christo täglich besser, seit ich es in der Schule des Schicksales lese. Die Gelehrten zu Oxford und Cambridge kommentieren nur Buchstaben, den Geist nicht. Die Natur ist die beste Auslegerin des Evangeliums.

      Mit diesen Betrachtungen schließe ich heute das Jahr.

      Es ist mir sehr lieb, daß ich seit einigen Jahren dieses Tagebuch fortsetze. Jeder Mensch sollte ein solches führen; man lernt aus sich selbst mehr, als aus den gelehrtesten Büchern, Wenn man sich durch Niederzeichnung seiner Gedanken und Empfindungen gleichsam täglich selbst abmalt, sieht man am Ende des Jahres, wieviel Gesichter man hat. Der Mensch ist sich in keiner Stunde gleich. Wer da sagt, er kenne sich selbst, hat nur Recht in dem Augenblick, da er es von sich sagt, denn da fühlt er sich. Wenige wissen, was sie gestern waren; noch wenigere, was sie morgen sein werden.

      Auch dazu ist das Tagebuch gut, daß man festeres Vertrauen auf Gott und Vorsehung gewinne. Die ganze Weltgeschichte lehrt das nicht so lebendig, als die Geschichte der Gesinnungen, Urteile und Gefühle von einem einzigen Menschen binnen zwölf Monaten.

      Ich habe auch dies Jahr die Wahrheit des Erfahrungssatzes bestätigt gefunden: ein Unglück kommt selten allein . . . aber wenn die Übel am höchsten gestiegen sind, beginnen wieder die schönen Stunden. Dann bin ich, mit Ausnahme der ersten Erschütterungen, wirklich am vergnügtesten, wenn es am ärgsten geht, denn ich freue mich schon auf das Bessere, was nachkommt, und lache, weil mich nichts anfechten kann. Hingegen bin ich, wenn alles nach Wunsch geht, ängstlich und schüchtern und mag mich nicht der Freude sorglos hingeben, denn ich traue dem Frieden nicht. Das ist das empfindlichste Übel, von dem man sich überraschen läßt. Auch ist es wahr, daß jedes Unglück in der Ferne furchtbarer scheint, als es ist, wenn man es hat. Gewitterwolken sind in der Nähe nie so schwarz, als wenn sie aus der Ferne heranziehen.

      Ich habe mir's zur Gewohnheit gemacht, bei allen bösen Vorfällen blitzschnell zu denken: welches können für mich die nachteiligsten Folgen davon sein? . . . Dann mache ich mich ohne weiteres auf das Äußerste gefaßt, und es kommt selten. Auch das finde ich gut. Ich spiele zuweilen wohl mit Hoffnungen, aber ich lasse die Hoffnungen nicht mit mir spielen. Um die Hoffnungen im Zaume zu halten, denke ich nur, wie selten das Glück mir wohl will. Dann weichen alle Träumereien zurück, als ob sie sich vor mir schämten. Wehe dem, der ein Spiel seiner Hoffnungen ist! Er geht tanzenden Irrwischen in die Sümpfe nach.

       Am Neujahrstage 1765, des Morgens.

      Eine wundervolle und traurige Begebenheit eröffnet dieses Jahr. Folgendes ist der Hergang der Sache.

      In der Frühe um sechs Uhr, da ich im Bette liegend über meine heutige Predigt nachdachte, hörte ich an der Hausthür pochen. Polly war schon in der Küche. Sie sprang hinaus, die Thür zu öffnen und nachzusehen, denn so frühe Besuche sind bei uns ungewöhnlich. Es trat ihr in der Dunkelheit des Morgens ein Mann entgegen, der eine große Schachtel in dem Arm hielt und an Polly mit den Worten übergab: Herr — (den Namen verstand Polly nicht) übersendet dem Herrn Vikar die Schachtel, und er möchte Sorgfalt haben für den Inhalt.

      Polly nahm mit freudiger Bestürzung die Schachtel. Der Träger derselben entfernte sich. Polly klopfte leise an meine Kammerthür, um zu hören, ob ich wache. Sie kam auf meine Antwort und wünschte mir mit dem guten Morgen zugleich auch Glück zum neuen Jahre und setzte lachend hinzu:

      »Siehst Du, Väterchen, daß Polly prophetische Träume haben kann! Hier ist die verkündete Bischofsmütze!«

      Nun erzählte sie, wie man ihr das Neujahrsgeschenk für mich übergeben habe. Es verdroß mich, daß sie nicht bestimmter nach dem Namen des unbekannten Gönners oder Wohlthäters gefragt habe.

      Während sie hinausging, die Lampe anzuzünden und Jenny aus dem Bett zu rufen, kleidete ich mich an. Ich läugne nicht, daß ich vor Neugier brannte, denn bisher waren die Neujahrsgeschenke für den Vikar in Crekelade ebenso unbedeutend als selten gewesen. Ich vermutete, mein Gönner, der Pächter, dessen Wohlwollen ich erworben zu haben schien, wolle mich mit einer Schachtel voll Kuchen überraschen, und bewunderte seine Bescheidenheit, mir das Geschenk zu übersenden, ehe es Tag geworden.

      Als ich ins Wohnzimmer trat, standen Polly und Jenny schon vor dem Tische bei der Schachtel, die sorgfältig versiegelt und von ganz ungewöhnlicher Größe war, wie ich noch nie eine gesehen hatte. Ich hob sie und fand sie ziemlich schwer. Im Deckel waren zwei sauber geschnittene runde Löcher.

      Ich öffnete mit Jennys Hülfe die Schachtel sehr behutsam, weil mir der Inhalt zur sorgfältigen Behandlung empfohlen war. Ein feines weißes Tuch ward abgedeckt und siehe da . . .

      Nein, unser Erstaunen ist nicht zu beschreiben. Wir riefen alle, wie aus einem Munde: »Mein Gott!«

      Da lag ein junges Kind, etwa sechs oder acht Wochen alt, schlummernd, in das feinste Linnen mit rosafarbenen Seidenbändern zierlich eingehüllt. Es ruhte mit dem Köpfchen auf einem weichen blauseidenen Kissen und war mit einem Bettdeckchen wohl zugedeckt. Die Decke, sowie das Häubchen des Kindes, waren mit den kostbarsten Brabanter Spitzen besetzt.

      Wir standen einige Minuten lang stumm betrachtend da. Endlich brach Polly in ein närrisches Gelächter aus und rief:

      »Was sollen wir damit anfangen? Das ist keine Bischofsmütze!«

      Jenny berührte schüchtern mit der Fingerspitze die Wangen des schlafenden Kindes und sagte mitleidig:

      »Du armes Geschöpf, hast Du keine Mutter, oder darfst Du keine haben? . . . Großer Gott, ein so liebenswürdiges, hülfloses Wesen verstoßen! . . . Und sieh nur, Vater, sieh nur, Polly, wie ruhig und vertrauensvoll es schläft, um sein Unglück unbekümmert, als wenn es fühlte, es läge in Gottes Hand! Schlaf nur, du armes, verstoßenes Wesen! Deine Eltern sind vielleicht zu vornehm für Dich, armes Geschöpf und zu glücklich, um ihr Glück durch Dich stören zu lassen. Schlaf nur, wir verstoßen Dich nicht! Man hat Dich ja an den rechten Ort getragen: ich will Deine Mutter sein.«

      Wie Jenny so sprach, fielen ein paar große Thränen aus ihren Augen. Ich nahm das fromme, weichherzige Mädchen an meine Brust und sagte:

      »Sei seine Mutter! Die Stiefkinder des Schicksals kommen zu den Stiefkindern. Gott