Heinrich Zschokke

Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke


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Lebensbedürfnis zu arbeiten gezwungen wird. Der mehr als wahrscheinliche Verlust seiner schönen Jugendgespielin machte für ihn die Welt zu einer inhaltlosen Schale, die für sich selbst ohne Wert ist. Und auch, wenn ihm Epiphania geblieben wäre, wie konnte er ihr ein erträgliches Loos anbieten?

      Er ging raschen Schrittes, doch mit dumpfem Sinnen und gedankenlos, durch die obere Vorstadt, längs dem stillfließenden Bach nach Suhr hin; sah, grüßte und dankte niemandem, bis ihn ein kräftiger Schlag auf die Achsel weckte.

      »Heda! Man geht nicht so stolz an alten Bekannten vorüber, Herr Freund,« rief der Erwecker. »Woher? Wohin? Gott sei Dank, daß ich Euch noch zwischen Himmel und Erde wieder finde. Seid willkommen. Wir sind Glückskinder, wir Beide! Wie seid Ihr den Oltenern entwischt?« Fabian erkannte in dem Frager zwar den Meistersänger von Aarau, er ließ ihn aber noch lange fragen, ohne zu antworten, und starrte ihn an.

      »Die Oltener Kost, scheint es, hat Euch nicht wohlgethan,« fuhr Meister Wirri fort. »Wasser und Schwarzbrot. Es läßt sich zwar zur Not mit den Gänsen trinken, aber nicht essen. Indessen nach dem Regen kommt Sonnenschein, Herr Freund. Man verschläft viel Ungemach und unsereins muß unterm Kreuz still halten. Ihr schneidet noch ein saures Gesicht.«

      »Daß ich nicht wüßte, Meister,« antwortete Fabian, der sich noch nicht ganz ermannen konnte.

      »Ein rechtes Muster wäre es auf einem Essigkrug. Wo fehlt's denn, Herr Freund? Ist Euch eine Ratte über den Weg gelaufen?«

      »Kleinigkeiten, Kleinigkeiten! Nichts sonst.«

      »Kleinigkeiten? Ei, die sollen einen Mann von Kraft und Mark, wie Euch, nicht verdrießlich machen. Der Adler jagt keine Mücken. Sagt mir das nicht. Meinethalben, Ihr möget am besten wissen, wo Euch der Schuh drückt. Aber sagt mir, sitzt unser Unglückskamerad, der, wie heißt er nur, der Dom-Narr oder so etwas, denn ein Pfaff ist er einmal . . . sitzt er noch im Oltener Loch?«

      »Er wurde schon anderen Tages frei. Aber sagt mir, Meister, für wen haltet Ihr diesen Menschen? Er stößt mir auf, wohin ich komme; überall hat er die Hand im Spiele.«

      »Der schwimmt also, wie die Petersilie, auf allen Suppen. Das sieht ihm ähnlich, denn ich halte ihn, trotz seines Läugnens, für einen katholischen Priester und nichts anderes, der aus der Welt ein Puppenspiel macht, das er regieren muß. Glaubt's, Herr Freund, kein Pfäfflein ist so klein, es steckt ein Päpstlein drein. Ich mag von ihm nichts wissen. Er gehört zu den Leuten, von denen man das Beste weiß, wenn man nichts weiß. Nun aber saget mir, wohin geht die Reise?«

      »Ins Moos, zum Addrich, wenn Ihr mit wollet.«

      »Puh! Acht gehabt! Laßt Euch nicht tiefer in das Wasser, als Ihr den Grund fühlt. Womit man umgeht, damit wird man auch gestraft. Bleibt bei uns in Aarau. Einen Zoll weit über den Stadtbann hinaus ist heutzutage kein Leben mehr sicher. Ihr tragt ja nicht einmal einen Fliegenwedel in der Hand.«

      »Wozu, Meister?«

      »Das werdet Ihr erfahren, sobald die Schmeißfliegen stechen. Denkt an mich! Den Rebellen fehlt's nicht an Säbeln, Hellebarden, Pistolen und Flinten, und was ihnen fehlt, stehlen sie dazu . . . Aber wartet doch, warum eilet Ihr? Unglück kommt einem auf halbem Wege entgegen, es ist nicht nötig, danach zu rennen.«

      Meister Wirri rief ihm vergebens nach; Fabian hörte nicht, sondern machte mit der Hand nur noch eine Bewegung. wie zum Abschiede, und schritt hastig den Weg am Bache hin. – Die kurze Unterredung mit dem würdigen Meistersänger hatte für ihn die wohlthätige Wirkung gehabt, daß eine Art Besonnenheit in ihn zurückgekehrt war. Wie gleichgiltig ihm auch bei der Stimmung seines Gemütes jede Gefahr sein mochte, wollte er doch die einzige vermeiden und nicht zum dritten Male Gefangener werden. Er ließ sich daher keine Umwege durch Busch und Berg verdrießen, um den Dörfern auszuweichen.

      Als er die Spitze des altertümlichen Burgstalls und die unmittelbar daran grenzenden dichten Tannen erreicht hatte, stieg er unverdrossen in deren feuchtem Schatten das Gebirge hinauf, über das traurige Loos seiner Tage brütend. Er hatte seine unverschuldete Verlassenheit und Verwaisung noch nie im Leben so tief empfunden, wie in diesem Augenblicke; selbst nicht in der Einsamkeit seiner Kerker zu Bern und Olten. Ohne Eltern, ohne Verwandte, ohne Freunde hatte er mit brüderlichem Herzen an Epiphania gehangen; hatte er in ihrer schwesterlichen Zärtlichkeit allein Ersatz für alle andern Entbehrungen gefunden und sah nun auch diese sich entfremdet. Zu gebildet, um sich unter den rohen, abergläubigen Bergbewohnern glücklich zu fühlen, zu stolz, um bei der reichsstädtischen Hoffart seiner Herren und Oberen zur Frohn zu gehen, war ihm die Schweiz nicht mehr Vaterland als jeder andere Fleck des Erdbodens.

      Jetzt dachte er an Addrich und jetzt erst glaubte er ihn zu verstehen, den Unglücklichen, den mit sich und seinem Dasein zerfallenen Mann, als derselbe unter den Fichten des Gönhards aus der Fülle seines Elendes gerufen hatte: »Ich habe die Welt von allen Seiten betrachtet und am Ende gefunden, sie sei nicht des ersten Blickes wert gewesen.«

      Diese Erinnerungen lagerten sich wie schwarze Schatten über sein Gemüt. Ihm ahnten die heimlichen Leiden aller Wesen, das allgemeine Unglück aller Geschöpfe, dem, vom Wurm bis zum Weisesten, keiner entrinnen könne. Er selbst begann mit seinem Dasein zu grollen und rief: »Das Beste im Leben ist die Freiheit des Sterbens!«

      Er trat aus der Dämmerung des Waldes auf die kahle, von magerem Grase gebildete Bergkuppe der Bampf, die sich mit breitem Rücken auf einem Kranz von Gebüschen erhob. Die riesenhaften Formen der Alpen standen vor ihm, veilchenfarben, mit dem Goldrot des Abendlichtes und dem noch tiefhangenden Silberkleide des Winters bekleidet. Rechts, wo ein Pfad über die Höhe zum Thaldorfe Dürrenäsch und etwas näher noch seitwärts in Addrichs verborgene Einsamkeit führte, streckte das nahe Gebirge seine schwarzen Felswände und Zacken hervor, während links aus der Tiefe die Wellen des Sees von Hallwyl blitzten, wie ein über den grünen Sammet der Matten ausgespanntes Silberband.

      Fabian stand still. Die Majestät des großen Schauspiels rührte mit überraschender Macht seine Seele. Der reine Atem des Himmels, welcher ihn in diesen Höhen umwehte, der allgemeine Glanz, das allgemeine Schweigen durchdrangen ihn. Die Natur übte ihr Hoheitsrecht, dem kein reines Gemüt widersteht. Er fühlte sich wunderbar über sich selbst und über die schweren Träume und Zweifel erhaben, welche ihm allein von der dumpfigen Waldtiefe angeblasen zu sein schienen, der er eben entstiegen war. Und als er das Antlitz zurückwandte, umspannte seinen Gesichtskreis der ungeheure Bogen des Jura, der seine blauen Gipfel, Firste und wellenförmigen Grate zu den Wolken hinaufstreckte, als würde die Erde in den Himmel hinaufgezogen. Links in der Entfernung einiger Wegstunden leuchteten im frischen Frühlingsgrün die Gefilde von Aarau; rechts vor ihm in der Tiefe traten die Zinnen, Türme und alten Mauern der großen Lenzburg, weiterhin, am Felsen hangend, die weißen Schloßmauern von Brunegg hervor.

      Er warf mit dem leichten und wandelbaren Sinne seines Alters die Sorge von sich und faßte neue Entschlüsse. »Bin ich arm,« dachte er, »nun so gehört mir die weite Welt. Was habe ich verloren, wenn ich mich selbst noch habe? Bin ich verlassen, nun so steht Gott mir bei. Wer hat's besser als ich? Niemand ist reicher, als wer der Welt nicht bedarf; niemand mächtiger, als wer sich selbst bändigt. Ich bin noch nicht arm genug; ich bin noch nicht stark genug. Ich will die Bande brechen, die mich binden. Lebe wohl, Vaterland! Lebe wohl, Epiphania! Ich werfe der Freude, wie dem Schmerz, den Scheidebrief hin, und will dem Schicksal meinen Trotz zeigen. Der Feige schmiegt sich unter die Hand desselben. Ich bin noch nicht arm genug, ich will nichts mehr besitzen, auch die Hoffnung will ich nicht mehr, die mich noch an diese Gegenden knüpfte. Hinaus in die Welt, in die Ferne; da will ich mir eine neue Welt aus eigener Kraft erbauen.«

      So dachte er und that stolz einige rasche Schritte. Er glich in seiner Haltung einem Könige, in seinem Selbstgefühl dünkte er sich, es zu sein, der Staub aller Weltherrlichkeit unter seinen Füßen, die Stirn im Himmel.

      Während sein Blick noch in die Ferne, über die Gebirgskette des Jura hinschweifte, und seine Seele noch in der Wollust freiwilliger Verzichtung auf die bisherigen Freuden seines Daseins schwelgte, drangen menschliche Stimmen an sein Ohr. Er wandte das Antlitz nach der Gegend, von wo die Töne kamen; sie erschollen aus dem Gebüsche, welches, nahe bei ihm, die Vertiefung verbarg, in der man zum Moose gelangte,