Heinrich Zschokke

Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke


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den kränklichblassen Mienen, aus den matten Zügen um die geschlossenen Lippen, aus der gelinden Senkung des Hauptes gegen die Achsel, aus der Stirn voller Falten, um welche ein dünnes, unter schwerem Kummer allzu früh ergrautes Haar sich zog, erkannte man den namenlosen tiefen Gram und die tausend mannigfachen Leiden, welche Diesen edeln Mann in einer schauerlichen Reihe von Jahren allmählich töten mußten. Aber der feste und doch so gutmütige Blick der Augen verkündete wieder ein Gemüt, worin Stille wohnte, während es draußen stürmte; einen Geist, der kraftvoll durch frohes Bewußtsein zu den Schmerzen seines Körpers lächeln und seinen Peinigern verzeihen konnte.

      Wir standen lange vor dem anziehenden Gemälde. Uns ward, als schwebe des Dulders Geist um uns.

      Nach einer Weile führte uns Dillon wieder in das vorige Zimmer zurück. Wir setzten uns wieder, wie vorher. Da nahm der Abbé die Papiere und las:

      Je länger ich mich mit Alamontade unterhielt, desto ehrwürdiger erschien er mir. Er war mein Lehrer, ich sein Schüler geworden. Ich, vom Kapitän Delaubin gesagt, ihn zur Religion zurückzuführen, hatte an ihm meinen Bekehrer gefunden. Ich fühlte meine Vernunft in sich selbst wieder befriedigt, und meine Zweifel mit einander ausgesöhnt. Ich sah ein, daß ich bisher nicht gedacht, sondern geträumt; daß ich Gegenstände, welche nicht in Verbindung mit der Erfahrung und Sinnenwelt stehen, Gegenstände, die nur von den Blicken der Vernunft berührt sein wollen, in ein Phantasiebild hatte bringen wollen; daß all mein Unglaube nur daher entsprungen, daß ich mir durch die Einbildungskraft vom Wesen der Gottheit oder von der Natur und Möglichkeit des Ewigseins eine anschauliche, gleichsam bildliche Vorstellung hatte schaffen wollen, wie man von sinnlichen Dingen zu haben pflegt. Ich sah ein, daß das Kind, welches sich Gott als einen mächtigen Greis, der Wilde, welcher sich ihn als ein verzehrendes Feuer denkt, daß alle sich kindlich-verwegen täuschen.

      »O Mensch,« rief ich tiefbewegt, »wie war es möglich, daß Dich die Menschen aus ihren Reihen verbannten? Wie konntest Du mit diesem erhabenen Sinn zum Verbrecher werden? Seit wann schmiedet man den Tugendhaften an die harte Ruderbank? Warst Du vielleicht ein so grober Sünder, daß die bürgerliche Gesellschaft von Dir zu fürchten hatte? Es ist nicht möglich, Alamontade! Du bist unschuldig zur gräßlichsten der Strafen verdammt worden. Rede doch! Ich übernehme Deine Rechtfertigung. Du sollst, Du mußt noch einmal geehrt ins Leben zurücktreten! Schande darf nicht über Dein Grab gehen!«

      Er war sehr erschüttert. Er zog mich mit Inbrunst an sich, und sein Blick schmolz in Thränen. »O,« rief er, »nun noch einmal einen Menschen, einen Bruder an diesem längstverwaisten, armen Herzen! Ach, es hat in den dreiundzwanzig Jahren seiner Einsamkeit die Liebe noch nicht verlernt; es fühlt noch einmal wieder seine alte Seligkeit, bevor es bricht!« Mehr konnte er in seiner Wehmut nicht sprechen. Er schwieg und seufzte still weinend.

      In dieser schönen Stunde war's, daß Alamontades Herz sich freier gegen mich aufschloß. Er gab mir in zerrissenen Blättern sein Tagebuch. Er machte mich auf mein dringendes Bitten mit vielen Umständen seines Lebens genauer bekannt. Ich darfs nun wohl nicht erst sagen: Alamontade war unschuldig! Ich wollte auf der Stelle an seiner Rechtfertigung arbeiten. Ich wollte, daß ihm die Gerechtigkeit öffentliche Genugthuung leiste, ihm die geraubte Ehre zurückgebe. Er schüttelte den Kopf und bat mich, so lange er lebe, keinen Schritt dafür zu thun. Er sei nicht lüstern nach der Achtung einer Welt, die ihn so lange, so unbarmherzig verstieß, und zöge es vor, die letzten seiner Tage unzerstreut und ungestört sich selber zu gehören.

      Ich wirkte für ihn bei den Behörden sogleich ein besseres Zimmer, größere Bequemlichkeit aus. Mit Freuden hätte ich mein Hab' und Gut hingegeben, ihm damit nach so viel ausgestandenen Leiden einen fröhlichen Augenblick zu erkaufen. Ach, daß ich ihn erst so spät kennen lernte!

      Auf mein wiederholtes Begehren, mir alle, auch die geheimsten seiner Wünsche zu entdecken, sagte er endlich: »Wohlan, schreiben Sie doch nach Nismes oder Montpellier, um zu erfahren, wohin Klementine gekommen. Ob sie noch am Leben sei? Ob sie sich verheiratet habe? Ob sie glücklich war?«

      Ich kannte diese Klementine aus seinen Papieren und seinen mündlichen Erzählungen. »Und wie, Alamontade?« sagte ich. »Wenn nun Klementine noch am Leben wäre? Nicht wahr, Du würdest wünschen, sie noch einmal zu sehen?«

      Er lächelte bei dieser Frage still vor sich nieder. »Ach, sie war der Engel, der meine Jugend zauberhaft verschönerte und mich weinend bis an die Schwelle des verlornen Paradieses führte! Nein, bemühen Sie sich nicht, mein lieber Herr! Sie wird Alamontades nicht mehr gedenken, wenn sie lebt, und noch weniger wird sie sich überwinden können, zum Sterbelager des Galeerensklaven eine Reise zu machen.«

      Ich schrieb. Ich bot die Hilfe aller meiner Freunde, aller meiner Bekannten auf, Klementinen zu entdecken, und sie zu bewegen, ohne Versäumen nach Toulon zu eilen, wo ihr wichtige Entdeckungen bevorständen. Wirklich gelang es einem meinem Freunde, ihren Aufenthalt zu erfahren. Es war bei Montpellier, wohin sie seit einigen Jahren aus Paris zurückgekehrt war. Sie hatte kaum von Alamontade erfahren, so entschloß sie sich, die Reise nach Toulon zu machen, ungeachtet sie an einer schweren Krankheit daniederlag.

      Doch, Ihr Lieben, fuhr Dillon fort, wir vergessen. daß die Mitternacht vorüber ist, daß wir der Ruhe bedürfen! Morgen, wenn Ihr wollt, erzähle ich Euch die Geschichte unseres gemeinsamen Freundes! Sie ist belehrend. Ein so grausames Schicksal konnte nur ein Mann wie Alamontade tragen, ohne darunter zu erliegen. Mit seinem Blick auf Gott, erhaben über seinen eigenen Schmerz, ging er heldenmütig durch ein schauerliches Leben, von welchem jede Stunde schreckhafter als der Tod war.

      Bei diesen Worten erhob sich Dillon. Wir folgten seiner Einladung. Wir umarmten ihn mit innigem Danke. »Was Sie, lieber Abbé, dem ehrwürdigen Sklaven sagten, als Sie ihm für Ihre Bekehrung dankten, das haben Sie zu sich selbst in unserem Namen gesprochen!« rief ich. »Welch ein majestätisches Wesen, dieser Alamontade in seinen Ketten! Welch ein mächtiger, seltener Geist! Seine Worte tönen wie Göttersprüche, und machen den Menschen göttlicher. Ich will mir seine Reden abschreiben. Nur Bruchstücke sind sie, aber in sich ein Vollendetes. Man muß sie öfters lesen, öfters hören, um in das schöne Heiligtum ihres Sinnes einzudringen!«

      So schieden wir begeistert von einander. Die Morgenröte fand uns früher als wir den Schlummer.

      Zweites Buch.

       Inhaltsverzeichnis

       Inhaltsverzeichnis

      Als wir im Gartenzimmer beisammen waren, nahm der Abbé ein Heft hervor. »Hier,« sagte er, »ist Alamontades Erzählung, wie ich sie mit möglichster Sorgfalt zusammengetragen! Ich gab zu allem nur die vereinende Schnur; Alamontades Gedanken und Worte sind es, die ich darauf aneinander gereiht habe. Manches werdet Ihr darin sehr kurz, manches wieder umständlicher entwickelt finden, je nachdem den Erzähler Gegenstände seiner Vergangenheit mehr oder weniger berührten, oder meine Fragen dazu leiteten.«

      Dillon, beschattet vom spielenden Weinlaub am Fenster, las. Nie vergesse ich diese schöne Stunde.

      Ein kleines Dorf in Languedoc war meine Heimat und der Ort meiner Geburt, erzählte Alamontade. Ich verlor meine Mutter sehr früh. Mein Vater, ein armer Bauer, konnte, seiner Sparsamkeit ungeachtet, wenig auf meine Erziehung verwenden. Doch war er bei weitem nicht der Ärmste im Dorfe. Aber außer dem Zehnten von seinen Weinbergen, Ölbäumen und Äckern mußte er vom Übrigen seines mühseligen Gewinns den vierten Teil an Steuern und Abgaben hingeben. Unsere alltägliche Nahrung war Suppe mit schwarzem Brot und Rüben.

      Mein Vater versank in Not. Dies kränkte ihn sehr. »O Colas,« sagte er mehr als einmal zu mir in schmerzlichem Ton, indem er die Hand auf mein Haupt legte, »meine Hoffnung geht zugrunde! Ich werde im Schweiße meines Angesichts dennoch keinen schuldenfreien Sarg gewinnen. Wie will ich nun das Wort halten, welches ich mit dem letzten Kuß Deiner Mutter auf ihrem Totenbette gab? Ich versprach ihr