Heinrich Zschokke

Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke


Скачать книгу

Tages öffnete sich die Thür meines einsamen Gemachs. Ein junger, schöner Mann trat herein, das Zimmer zu besichtigen. Es war Herr Bertollon. »Sie haben hier eine traurige Aussicht!« sagte er, und trat ans Fenster. »Doch drüben noch ein Stückchen vom Hause de Sonnes, einem der geschmackvollsten in der Stadt!« setzte er lächelnd hinzu.

      Der Name de Sonnes erschütterte mich. Herr Bertollon blieb nachdenkend am Fenster stehen, und schien traurig zu werden. Ich knüpfte ein Gespräch an. Er fragte mich um meine Herkunft, um meine Kenntnisse. »Wie?« sagte er, »Sie spielen die Harfe? Und Sie lieben sie leidenschaftlich, ohne das Instrument zu besitzen?«

      »Ich bin zu arm, mein Herr, mir selbst eins zu kaufen. Mein weniges Geld reicht kaum für die notwendigsten Bücher hin.«

      »Meine Frau hat zwei Harfen. Sie kann eine schon entbehren!« gab er zur Antwort und verließ mich.

      Binnen einer Stunde kam die Harfe. Wie glücklich war ich! Nun dacht' ich an Klementinen und schlug die Saiten. Empfindungen sind sprachlos; für den Gedanken sind die bezeichnenden Worte erfunden; für das Gefühl des Herzens die lieblich klingenden Töne.

      Am folgenden Morgen kam der liebenswürdige Bertollon. Ich dankte ihm gerührt. Er fordete mich zum Spielen auf. Ich spielte und dachte an Klementinen. Er lehnte mit der Stirn ans Fenster und starrte trübe hinaus über die Dächer. Meine Seele versank im Gewühl der Harmonieen. Ich bemerkte nicht, daß er sich umwandte und horchend neben mir stand.

      »Sie sind ein lieber Zauberer!« rief er, und umarmte mich mit Heftigkeit. »Wir beide müssen Freunde werden!«

      Ich war schon der seinige; wir wurden's noch mehr in Zeit von einigen Wochen. Ich mußte ihn bei schönem Wetter auf allen kleinen Lustfahrten begleiten. Er verknüpfte mich mit einer unzähligen Bekanntschaft. Jeder behandelte mich mit Achtung und Auszeichnung. Er war Besitzer einer ansehnlichen Bibliothek, einer reichen Naturalien-Sammlung. Er übertrug mir die Aufsicht, und schien nur dies Mittel gewählt zu haben, meiner Armut durch ein ansehnliches Jahrgehalt für die geringen Bemühungen abhelfen zu können, ohne meine Empfindlichkeit zu kränken.

      6.

       Inhaltsverzeichnis

      Während ich so den Musen und der Freundschaft meine Stunden weihte, waren die beiden Fenster und der Balkon des Palastes de Sonnes nicht vergessen. Herr Bertollon hatte mir schon mehrmals ein anderes Zimmer, mit kostbaren Möbeln und einer weiten, schönen Aussicht, für mein Dachstübchen angeboten. Aber nicht gegen sein erstes Prunkzimmer, nicht gegen die Aussicht ins Paradies von Languedoc hätte ich das arme Dachstübchen vertauscht.

      Der Zufall – denn Erkundigungen einzuziehen verhinderte mich eine seltsame Schüchternheit – der Zufall lehrte mich, daß die Familie de Sonnes in wenigen Wochen von Nismes zurückkommen würde, und daß sie in tiefer Trauer um Klementinens kürzlich verstorbene Schwester sei. Aber die Familie de Sonnes kam nicht zurück, und kein Zufall belehrte mich des Weiteren. Ich aber schwieg und verbarg der Welt mein liebendes Herz.

      Die Ferien der hohen Schule erschienen. Ich flog nach Nismes, in der Hoffnung, dort glücklicher zu werden. Als ich beim Landhause an der Vidourle vorüber kam, blieb ich stehen. Alles war verschlossen, ungeachtet die Felder und Hügel von Schnittern und Winzern wimmelten. Da suchte ich die Wunderstelle unter den Kastanien auf, wo Traum und Wirklichkeit einst so zauberhaft zusammenflossen. Ich warf mich unter den herabhängenden Zweigen auf der Stätte nieder, welche Klementinens Fuß durch seine Berührung einst gleichsam geheiligt hatte. Liebe und Wehmut zogen mich nieder. Ich küßte den geweihten Boden, der damals das Teuerste getragen, was die Welt für mich enthielt. Ach, umsonst harrte ich einer Engelserscheinung entgegen. Ich verließ den schönen Ort, als es schon Abend geworden, und über der verdämmernden Ebene nur noch die Felsengipfel der Sevennen goldrot funkelten.

      Herr Etienne und die fromme Mutter, und Marie, Antonie und Susanne, die drei Töchter, empfingen mich mit rührender Freude. Ich sank von Herz an Herz, wortlos und selig, und wußte nicht, von wem ich inniger geliebt wurde, und wen ich am meisten liebte. Ich war Sohn und Bruder in dieser Familie; war in meiner Heimat, und die Freude aller.

      »Ja, Du bist unser aller Freude!« rief Herr Etienne gerührt, »und die Hoffnung unserer Kirche. Alle Nachrichten von Montpellier haben uns Deinen Fleiß gerühmt, und wie Deine Lehrer Dich stützen. Fahre fort, Colas, fahre fort, Dich zu waffnen, denn unsere Leiden sind groß, und das Trübsal der Gläubigen hat kein Aufhören! Gott ruft Dich. Werde sein auserwähltes Rüstzeug, die Macht des Widersachers der Gläubigen zu brechen, und das in den Staub getretene Evangelium triumphierend aufzurichten!«

      Die Besorgnisse meines Oheims waren seit einiger Zeit besonders durch harte Äußerungen der ersten Magistrats-Person der Provinz wider die geheimen Protestanten vermehrt worden. Der Marschall von Montreval wohnte in Nismes, und um so mächtiger und furchtbarer wurde dieser Mann, da er des Königs ungemessenes Vertrauen besaß. Seine Drohungen gegen die Hugenotten gingen von Mund zu Mund; einer raunte sie dem andern zu. Mich aber quälte eine andere Sorge. Vergeblich hatte ich alltäglich die Straße von Albertas' Hause, vergebens das Amphitheater durchirrt. Klementine war nirgends sichtbar. Auf der Straße begegnete mir eines Morgens der alte Diener, welcher mich auf Befehl der Frau de Sonnes im Landhause an der Vidourle bewirtet hatte. Er erkannte mich; er schüttelte mir freundlich die Hand, und erzählte mir nach tausend andern Dingen, Frau de Sonnes und ihre Tochter wären schon seit einigen Monaten nicht mehr in Nismes, sondern in Marseille, um durch die Zerstreuungen dieser großen Handelsstadt ihren Schmerz über den Verlust einer zärtlich geliebten Tochter und Schwester zu beruhigen.

      Mit vernichteter Hoffnung, Klementinen, wenn auch nur einen Augenblick und aus der Ferne, zu sehen, ging ich traurig nach Hause. Die freudige Erwartung, welche ich durch die volle Hälfte eines Jahres genährt hatte, war getäuscht. Niederschlagen betrat ich wieder das Haus des Herrn Etienne.

      Mit Befremden ward ich hier in allen Gesichtern eine ungewöhnliche Verlegenheit und Unruhe gewahr. Die Mutter trat zu mir, legte ihre Hände auf meine Schultern und küßte mich mit einem Blicke des Mitleids; Marie und Antonie und Susanne nahmen meine Hände freundlich in die ihrigen, als wollten sie mich damit trösten. Ich gab meine Verwunderung über dies alles zu erkennen. »Du hast Recht, Colas,« sagte der Alte, »und es verdrießt mich das Zagen der Weiber. Der Herr Marschall von Montreval hat vor einer Stunde hierher gesandt, und Dir gebieten lassen, morgen um die zehnte Stunde ins Schloß hinauf zu kommen. Da hast Du's. Weiter nichts! Ist Dein Gewissen ruhig, so gehe ohne Furcht zum Marschall, und wäre sein Schloßhof die aufgesperrte Hölle!«

      Die Mutter hatte mit zitternden Händen am andern Morgen meinen Anzug geordnet. Ich beruhigte mit allem Troste die lieben Bekümmerten. »Es ist zehn Uhr!« rief Herr Etienne. »Geh' in Gottes Namen! Wir beten für Dich.«

      Ich ging. Der Marschall von Montreval war in seinem Zimmer. Nach mehr denn anderthalb Stunden wurde ich durch eine Reihe von Zimmern und Sälen zu ihm geführt. »Ich wollte Sie sehen, Alamontade,« sagte der Marschall, »weil Sie auf der Liste der Universität Montpellier so sehr mit Lob ausgezeichnet sind! Bilden Sie Ihre Talente aus. Sie können ein nützlicher Mann werden, und ich will in Zukunft für Sie sorgen! Meine Aufmunterung wird Sie nicht stolz, sondern fleißiger machen. Ich werde mich ferner nach Ihnen erkundigen. Wenden Sie alles an, die Freundschaft des Herrn Bertollon, Ihres Gönners, sich zu erhalten, und sagen Sie ihm, daß ich Sie habe zu mir rufen lassen!«

      Dies war es, was mir der Marschall sagte. Er schien, nach einer kleinen Unterredung mit mir, Wohlgefallen an mir zu haben. Ich empfahl mich seiner Gnade, und eilte, meine in Bangigkeit schwebende Familie zu trösten. Die Freude war groß. Bald mußten es nun alle Nachbarn und die ganze Stadt erfahren, welcher Ehre mich der Marschall gewürdigt.

      7.

       Inhaltsverzeichnis

      Herr Bertollon war auf's Land zu seiner Gattin gereist, als