Heinrich Zschokke

Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke


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Du schwärmst wieder! Nur Schwärmer können solche Opfer fordern und bringen. Und es ist gut, daß es dergleichen in der Welt giebt. Aber komm' doch einmal zur Besonnenheit! Es thut mir leid um Dich, daß Du immer den Grillen nachhängst. Du wirst auf diese Weise nie glücklich. Lauf' durch die ganze Welt und suche die Thoren zusammen, die für Deine Begriffe in den Tod gehen wollen; Du findest unter hundert Millionen nicht einen. Alles ist unter gewissen Verhältnissen wahr, gut, nützlich, gerecht, schön. Die Begriffe der Menschen sind überall verschieden. Wie viele haben gemeint, mit ihrem Tode die Welt zu retten! Sie starben für ihre Vorstellungsart und nicht für die Welt, und wurden hinterher als Narren ausgelacht.

      Ich könnte um dieser Worte willen Dich hassen, Bertollon!

      Dann wärest Du nach Deinen Begriffen nicht allzu tugendhaft.

      Wenn Du Deinen Reichtum dadurch vergrößern könntest, daß Du mich ins Verderben stießest, würdest Du mich ins Verderben stoßen?

      Für eine solche Frage sollte ich Dich hassen, Colas!

      Und doch konnte ich sie thun. Du strebst ja nur, wie Du sagst, immer nach dem, was Dir nützlich ist. Du wägest ja die Güte der Thaten nur immer nach der Güte des Erfolgs.

      Lieber Colas, ich seh' es schon, Du wirst ein schlechter Advokat werden und wenig Schätze sammeln, wenn Du nur immer die nach Deinem Begriffe gute Sache und nie die ungerechte verteidigen willst, insofern Du Dir Vorteil dabei verschaffen könntest!

      Ich schwöre es Dir, Bertollon, ich würde mich lebenslang verabscheuen, wenn ich einmal meine Lippen zur Anklage der Unschuld und zum Schutz des Verbrechens rührte!

      Und doch, Du gutherziges Närrchen, wirst Du es mehr als einmal thun, weil Du nicht immer der Menschen Schuld und Unschuld auf ihrer Stirn geschrieben findest! Geh! Du wirst der Welt Narr, wenn Du nicht ihre Wege einschlagen kannst.

      So stritten wir oft miteinander. Ich ward zuweilen an ihm irre. Ich hätte ihn fürchten können, wenn er mir seine widerwärtigen Meinungen nicht immer so scherzend gesagt hätte, als wenn er sie selbst nicht hege. Er wollte mich nur gern in Harnisch bringen; und wenn's ihm gelungen war, lachte er herzlich. Seine Thaten aber sprachen gegen seine Worte.

      Madame Bertollon hingegen enthüllte täglich mehr die schöne Gesinnung, welche sie beseelte. Sie glühte für die Tugend, welche sie mit religiösem Eifer übte. Ich ward ihr Tischgenosse. Nie mangelte uns Stoff zur Unterhaltung. Einsam verlebte ich mit ihr die langen Winterabende. Sie lernte von mir die Harfe spielen. Bald konnte ich ihren reizenden Gesang mit meinem Saitenspiel begleiten. Sie sang meine Lieder mit tiefem Gefühl. Sie war bezaubernd. Ihre Schönheit würde mir gefährlich geworden sein, hätte mein Herz nicht an Klementine gehangen. Wenn ich von ihr mit Entzücken zu Bertollon sprach, lächelte er. Wenn ich ihm Vorwürfe machte, daß er ein so liebenswürdiges Wesen sich selbst überlassen könne, antwortete er: »Unser Geschmack ist verschieden. Laß doch einem jeden den seinigen!«

      Ich hatte meine Studien beendet und empfing den Grad eines Doktors der Rechte und die Erlaubnis, vor den Tribunalen des Königreichs als Anwalt aufzutreten. Meine verdoppelten Arbeiten in dieser Zeit machten meine Besuche bei Madame Bertollon seltener. Aber desto fröhlicher empfing sie mich dann jedesmal; desto lebhafter empfand ich, wie teuer sie mir war. Wir sagten es uns nicht, wie sehr wir uns einander notwendig geworden, aber jedes verriet es dem andern in Miene und Herzlichkeit des Wesens.

      Zuweilen schien es mir, als wäre sie trauriger als sonst, und dann wieder liebreicher und hingebender. Zuweilen schien sie mich mit auffallender Kälte und Zurückhaltung zu behandeln, und dann wieder mich mit zarter Schwesterlichkeit über meine Besorgnisse beruhigen zu wollen. Diese Ungleichheit des Betragens war mir befremdend; vergebens bemühte ich mich, die Ursache davon zu erforschen. Indessen blieb es mir nicht verborgen, daß sie nicht mehr wie sonst die immer Heitere und Gleichmütige war. Ich fand sie oft mit rotgeweinten Augen. Sie sprach zuweilen mit einer sonderbaren Schwärmerei über das Glück der klösterlichen Abgeschiedenheit. Dabei entzog sie sich ihren gewöhnlichen Gesellschaften mehr und mehr. Eine verhehlte Schwermut nagte an der Blüte ihres jungen Lebens.

      Diese Beobachtungen machten auch mich traurig. Ich bemühte mich oft vergebens, sie aufzuheitern. Die Wehmut ihres Blickes, das erlöschende Rot ihrer Wangen, ihr tiefes Schweigen, und ihr Bestreben, mir unter erkünstelter Munterkeit den Gram zu verheimlichen, an dem ihr Herz krankte, mischten in meine Freundschaft die milde Wärme und Zärtlichkeit des Mitleidens. Wie gern hätt' ich mein Leben darum gegeben, ihr frohere Tage zu erkaufen!

      Einst hemmte in einer Abendstunde, da sie zu meinem Harfenspiel sang, ein plötzlicher Thränenstrom ihre Stimme. Ich stellte erschrocken die Harfe weg. Sie stand auf und wollte in ihr Kabinett flüchten, um mir ihren Schmerz zu verbergen.

      Wie rührend sind Jugend, Schönheit und Unschuld im Augenblick des stillen Leidens!

      Ich ergriff ihre Hand und hielt sie zurück.

      »Nein,« rief sie, »lassen Sie mich!«

      »Aber so kann ich Sie unmöglich verlassen! Bleiben Sie! Darf ich Ihren Kummer nicht teilen? Bin ich nicht Ihr Freund? Nennen Sie mich nicht selbst so? Und giebt dieser schöne Name mir nicht ein Recht, nach Ihrer Betrübnis zu fragen, die Sie mir umsonst verheimlichen wollen?«

      »Lassen Sie mich! Ich beschwöre Sie, lassen Sie mich!« rief sie, und wollte sich mit matten Kräften von mir loswinden.

      »Nein! Sie sind unglücklich« . . . sagte ich.

      »Ja, unglücklich!« seufzte sie mit unverhaltenem Schmerz, und ihr schönes Gesicht sank an meine Brust, um die Thränen zu verbergen.

      Unwillkürlich schlang ich meine Arme um die zarte Dulderin. Ein wehmütiges Mitgefühl überwältigte auch mich. Ich stammelte ihr Worte des Trostes zu, und bat sie, sich zu beruhigen.

      »Ach, ich bin unglücklich!« rief sie mit Heftigkeit und schluchzend.

      Ich wagte es nicht weiter, mit unzeitigem Zureden den Sturm ihrer Empfindungen zu beschwichtigen. Ich ließ sie ausweinen, und führte sie zu den Sesseln zurück, da ich fühlte, daß sie schwächer ward und zitterte. Ihr Haupt blieb an meiner Brust. »Ihnen ist nicht wohl?« frug ich schüchtern.

      »Es wird mir wohler!« antwortete sie. Nach einer Weile ward sie ruhiger. Sie sah auf, und sah meine Augen naß. »Warum weinen Sie, Alamontade?« lispelte sie.

      »Kann ich bei Ihrem Schmerze ungerührt bleiben?« antwortete ich, indem ich mich zu ihr niederbog. Schweigend, Hand in Hand und Aug' in Auge, saßen wir da, von unsern Gefühlen überwältigt. Eine Thräne floß über ihre Wangen. Ich bog mich leise gegen sie, küßte die Thräne hinweg und zog die Leidende enger an mein Herz, ohne zu wissen, was ich that. Meine Lippen glühten an den ihrigen, und ich fühlte meinen Kuß sanft erwidert. Unsere Umarmung löste sich nicht; meine Thränen trockneten an der Glut der Wangen. In unsern Küssen loderte ein betäubendes Feuer, und was wir Freundschaft genannt, ging verwandelt in Liebe über.

      Wir schieden. Zehnmal schieden wir, und ebenso oft sank ich wieder an ihren Hals und vergaß der Trennung. Taumelnd, wie ein Berauschter, kam ich in mein Zimmer. Harfe, Kranz und Fenster erschreckten mich.

      10.

       Inhaltsverzeichnis

      In einer tiefern Verwirrung war ich nie gewesen, als am folgenden Morgen. Ich war mir selbst unbegreiflich und schwankte zwischen Widersprüchen. Madame Bertollon schien mich zu lieben; heldenmütig hatte sie bisher wider eine Leidenschaft gestritten, welche den Adel ihrer Seele befleckte. Ich Elender war's, der, ohne sie zu lieben, auf die Seite ihrer Leidenschaft treten und eine unselige Flamme anfachen konnte, von der sie verzehrt, und ich, mehr als die Unglückliche, entehrt werden mußte.

      Vergebens rief ich mir die Heiligkeit meiner Pflichten zurück; vergebens hielt ich mir den schändlichen Undank vor, welchen ich gegen Bertollons großmütige Freundschaft beging, vergebens gedachte ich Klementinens und meiner stillen Gelübde: Alles, was mir sonst reizend und ehrwürdig